Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Familienleben niederschlägt, wo man denn die intimen Fäden zwischen den Figuren zu fassen bekommt und ob sich das Leben zwischen den Beteiligten tatsächlich dokumentarisch abbildet. Oder bleiben die wirklich entscheidenden Momente und intimen Motive spurlos?
So studierte ich das Material hoffnungsvoll und skeptisch zugleich. Ich las die Briefe aus der Plastiktüte, und vieles habe ich sogleich wieder vergessen, weil ich keine persönliche Signatur ausmachen konnte, weil die Absender meistens von sich erzählten und kaum auf den Adressaten eingingen oder weil in den alltäglichen Mitteilungen keine Geschichte steckte, die über den Alltag hinauszureichen schien. Willy Brandt schreibt seinem Sohn regelmäßig, aber knapp. Bedankt sich für Bücher, Hinweise, gratuliert zu Geburtstagen, zeigt an, wenn er längere Zeit verreist oder wünscht gute Besserung, wenn Peter wegen gesundheitlicher Probleme ins Krankenhaus muss. Am 30. März 1987 schreibt Willy Brandt an seinen Sohn: »Lieber Peter, Brief und Telefonat haben mir wohlgetan. Der Abgang fällt mir nicht schwer, doch der Übergang bleibt mühsam genug.« Brandt schreibt hier sieben Tage nach seinem Rücktritt als Parteivorsitzender der SPD. Auf der offiziellen Grußkarte der Partei hat er die aufgedruckte Amtsbezeichnung »Vorsitzender der SPD« sorgfältig und akkurat mit dem Lineal durchgestrichen. Unterzeichnet ist die Karte lakonisch mit »Dein V«, wobei das V bekümmert und verloren in der Landschaft steht. Die Karte hat gewiss eine starke Aura, die schwarze Tinte unterstreicht das, Brandt lässt sein Amt als Parteivorsitzender, das er seit 1964 bekleidete, nicht leichten Herzens los, dennoch hat mich ein anderes Fundstück aus Peter Brandts Konvolut weitaus stärker berührt. Es ist eine Karteikarte (A 8, liniert), die von Peter Brandt geschrieben wurde. Karteikarten sind ja die treuen Helferlein des Geisteswissenschaftlers, mit ihnen versucht man, sich einen Weg durch das undurchdringliche Gestrüpp des Wissens zu schlagen, sie sollen festhalten, aufbewahren, retten, bevor alles untergeht in Chaos oder dem Strudel des ewig mahlenden Wissens. Diese Karteikarte jedoch hat sich der Systematik des Historikers entwunden, sie ist wohl eher eine melancholische Wegzehrung, ein Zitat, das einen Funken Trost spendet, eine Einsicht, die die Menschen über Jahrtausende verbindet und sie somit aus ihrer empfundenen Isolation reist: »Schmerz, der nicht vergehen will, erfüllt wieder und wieder das Herz, bis unsere Verzweiflung sich in Einsicht wandelt durch die unendliche Gnade der Götter.« Der Satz stammt von dem griechischen Tragödiendichter Aischylos. Darf ein materialistischer Historiker auf die Gnade der Götter hoffen? Und wo auf seinem Weg wandelt sich Schmerz zur Einsicht?
In einem unserer Gespräche sagte Peter Brandt einmal, sein Vater habe ihn eigentlich nur ein einziges Mal so richtig gelobt, für etwas, das er veröffentlicht oder wissenschaftlich publiziert habe: »Über meine Doktorarbeit hat er sich richtig gefreut, das erinnere ich gut, vielleicht weil es das noch nicht gab in der Familie. Außerdem stammte die Anregung für die Arbeit unmittelbar von ihm, denn er hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeiterbewegung in Bremen nach dem Krieg einen ganz interessanten Weg gegangen war.« Peter Brandt hatte seine Promotion 1973 abgeschlossen, und ein fernes Echo des Vaterstolzes findet sich noch in Willy Brandts 1982 veröffentlichtem Buch »Links und frei«, wo er aus der Promotion zitiert.
Die mit Magna cum laude bewertete Doktorarbeit erschien erweitert 1976 unter dem Titel »Antifaschismus und Arbeiterbewegung. Aufbau, Ausprägung, Politik in Bremen 1945/46«. Im Schlussteil der Arbeit finden sich einige Passagen, die auch als Nachdenken über den eigenen politischen Standort des Autors verstanden werden können, der auf dem Weg in den professionellen Wissenschaftsbetrieb frühere Positionen auch wissenschaftlich auf den Prüfstand stellte. Peter Brandt resümiert: »Dass die auf Erneuerung der deutschen Arbeiterbewegung gerichteten Ansätze im Jahr 1945 ohne nennenswerten Widerstand ausgeschaltet werden konnten und dass sie so gut wie keine Spuren hinterließen, deutet auf die tiefere Ursache ihres Scheiterns hin. Sie waren nicht der Ausdruck einer revolutionären Massenbewegung, sondern ein Kader-, oder wenn man so will, Elitephänomen der Arbeiterbewegung, getragen von jener Schicht unterer und mittlerer Funktionäre, die als
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