Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Bohmbachs eine Reise nach Österreich unternahmen. Der Regierende Bürgermeister fuhr ganz brav wie alle Berliner über die Transitstrecke. Seine Frau sitzt am Steuer, Willy Brandt hat nie einen Führerschein gemacht. Er ist ein ängstlicher Beifahrer, der aufstöhnt und ächzt. Brandt hatte nie vergessen, dass sein Großvater als Berufskraftfahrer an zwei Unfällen beteiligt war, bei denen zwei Menschen starben. In Österreich angekommen, machen die Brandts Rast in einer Gaststätte. »Das ist ganz der Peter! Da!« Frau Schurig tippt auf das Foto. »Da hast du ihm wieder was erklärt.« Tatsächlich sieht es auf dem Foto so aus, als setze der zwölfjährige Peter dem Vater etwas von höchster Dringlichkeit und Bedeutung auseinander. Der Zeigefinger des Jungen argumentiert, beweist, ficht an.
»So, das ist erst einmal alles zu Peter Brandt«, sagt die Archivarin, »Viel Spaß!« Vor mir liegen hunderte von Zeitschriften, Aufrufen, Appellen, Protestnoten, Broschüren, Briefen, Erklärungen. Da hat sich einer unzweifelhaft engagiert, eingebracht, gekämpft. Es finden sich viele handschriftliche Manuskripte, auf denen es von Umstellungen, Streichungen und Korrekturen wimmelt. Die Schrift ist gut zu lesen, obschon es eine stürmisch-eilende, eine eilige Handschrift ist. Peter Brandts Abiturrede endete mit Lenins Appell »Lernt, lernt, lernt!« Das hat er beherzigt. Ein Leben lang. Dabei geht es nicht um gute Noten, auch nicht in erster Linie darum, den Vater zu überbieten, sondern es geht um Wirklichkeitsertüchtigung, um Emanzipation von autoritären Systemen wie Schule und Universität, es geht um die Überwindung der ausbeuterischen kapitalistischen Ordnung. Sich mündig machen heißt in erster Linie viel lesen, studieren, analysieren, die Geschichte der Klassenkämpfe begreifen und begreifend eingreifen, voranbringen. Der radikale Trotzkist Peter Brandt will die bestehende Demokratie überwinden, eine basisdemokratische Räterepublik ist das Ziel. Im Laufe der siebziger Jahre verlässt er diese Position. Als angehender Geschichtsprofessor wird die parlamentarische Demokratie zu einem Möglichkeitsraum.
Würde ich versuchen, die politische Entwicklung Peter Brandts en detail nachzuvollziehen, würde ich in einem Meer von Begriffen verschwinden. Er vielleicht auch? Damit ich sein politisches Engagement verstehen könne, hatte mir Peter Brandt freundlicherweise einen Lexikon-Artikel aus dem umfänglichen »Parteien-Handbuch« von Richard Stöss kopiert, das einen Überblick geben soll über die Parteien der Bundesrepublik in den Jahren 1945 bis 1980. Den Artikel über die »Gruppe International Marxisten«, deren Spaltprodukt auch Peter Brandt angehörte, hat er zusammen mit Rudolf Steinecke selbst verfasst. Der Artikel scheint ausufernd lang, warum, fragt man sich, ist die Geschichte einer radikalen Splittergruppe so umfänglich? Die nimmt es ja auf dem Papier mit jeder Volkspartei auf. Aber ging es nicht genau darum? Sich der eigenen Geschichte möglichst exakt zu versichern?
Lese ich diesen Artikel und andere trotzkistische Originaltexte, kommt es mir vor, als sprängen die Autoren, in unserem Fall Peter Brandt, aus der Geschichte heraus, um zur Geschichte vorzustoßen. Wer die Wirklichkeit verändern will, muss sie beschreiben, wer sie beschreiben will, muss das möglichst genau tun. Man begibt sich in eine Meta-Position, man steigt auf einen Hochsitz, gezimmert aus Begriffen. Trotzkisten sind ehrgeizige Leute, wir, nur wir, sagen sie, sind die legitimen Erben der Revolution, und wir erklären euch jetzt warum. »Kommt mal mit auf unseren Hochsitz, von da oben sezieren wir den Kapitalismus!« – »Dein Hochsitz steht schief, dein Bild von der Welt ist verzerrt.« Da wird schnell ein neuer Hochsitz gebaut, der aber hat zu kurze Beine, der Blick reicht nicht über die Wipfel, weshalb ein höherer Hochsitz her muss. Einige Trotzkisten finden, von diesem Hochsitz ist der Blick prächtig, andere sagen, man stoße ja schon an die Wolken, der Blick sei also getrübt. »Ja«, sagen da einige, »hättet ihr euch an die Hochsitz-Errichtungspläne von Vater Trotzki gehalten, wäre das nicht passiert.« – »Haben wir, aber ihr lest die Baupläne falsch!« Trotzkismus ist also eine Art manischen Streits um den idealen Hochsitz. Wer den idealen Hochsitz gefunden hat, nutzt ihn sogleich als Plattform der Aufklärung. Von hier oben kann man der Arbeiterklasse zurufen, wie sie agieren muss, damit sich was ändert. »Halt,
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