Die Familie Willy Brandt (German Edition)
halt!«, rufen da einige Trotzkisten, »wenn ihr auf dem Hochsitz sitzt, könnt ihr doch nicht die Vorhut der Arbeiterklasse sein, ihr müsst zu den Leuten hingehen, auf einer Ebene mit ihnen stehen, wer sich auf einen Hochsitz begibt, ist ja schon weltentfremdet, das ist Verrat an der Wirklichkeit, Verrat an der Arbeiterklasse. Mit euch reden wir nicht, euer Hochsitz ist gebaut aus Hochverrat!«
Wenn ich den Trotzkismus ungefähr richtig verstanden habe – und ich muss diese permanent ausufernde Theorie hier ja auf einen Kern reduzieren –, dann startet der Trotzkist den Versuch, die Arbeiterklasse, das vermeintlich revolutionäre Subjekt, dergestalt aufzuklären, damit es erkennt, wie ungerecht die Welt eingerichtet ist, um dann, aufgeklärt, zur treibenden Kraft der Weltveränderung zu werden. Trotzkisten, das ist vielleicht ein Paradox, denken stets in internationalen Zusammenhängen und betreiben die permanente Revolution. Daher arbeiten sie verbissen an einer begrifflichen Dynamisierung, die Theorie muss den Gegebenheiten stets angepasst werden, denn eigentlich soll sie ja die Wirklichkeit überholen, aber weil Trotzkismus eben auch Theorie in Permanenz ist, erstickt sie schließlich an ihren Widersprüchen, die sie selbst so unerbittlich vorantreibt, dass die kleinsten trotzkistischen Zellen durch Zellteilung immer noch kleiner werden auf der Suche nach dem richtigen Weg. Und wenn etwas immer noch kleiner und kleiner wird, mauert es sich schließlich selbst ein und bleibt in sich selbst, im Nationalen oder Lokalen stecken, anstatt zum Internationalen vorzudringen. Mit einer geradezu selbstzerstörerischen Unerbittlichkeit (»unerbittlich« ist ein häufig gebrauchtes Wort in Trotzkis Schriften), grenzt man sich gegen andere linke Gruppen und Positionen ab. Man ist gegen die Sozialdemokratie, man ist aber auch gegen den »Stalinismus«. Die »breite Straße der Revolution« (Trotzki) wird man nur erreichen, wenn man sich zuvor von all den Wirrköpfen, Opportunisten, Renegaten und Revisionisten freigemacht hat. Der Trotzkist glaubt nicht an Gott, aber er glaubt an Häresie und den rechten linken Weg, den einer verlassen kann.
Peter Brandt hält Trotzki hoch, Berlin 1968
[ullstein bild/Rogge]
Als Trotzkist war Peter Brandt Teil einer esoterischen Elite, die sich vom irdischen »Elend« des sozialdemokratischen Alltags abheben konnte. Gerd Koenen schreibt in seiner Studie »Das rote Jahrzehnt«, in der er die revolutionären linken Bewegungen in der Bundesrepublik von 1967 bis 1977 untersucht, über die Trotzkisten: Sie »waren so etwas wie die Luftmenschen dieser ganzen neorevolutionären Bewegung, die in ihrer IV. INTERNATIONALE wie in einer vierten Dimension der Geschichte lebte. In ihrer Version nahm der ›revolutionäre Marxismus‹ vollends die Züge einer reinen Schriftreligion an. Und selbst dort, wo sie ultramilitant auftraten und durch Gestus und Kostüm ihr soldatisches Kämpfertum signalisierten, war das noch ein historisches Zitat.« War der Trotzkismus für Peter Brandt nicht eine Möglichkeit, dem Vater auszuweichen und ihm doch nah zu sein? Der Vater hatte sich 1931 einer radikalen linken Splittergruppe angeschlossen, der Sohn tat das auch, aber er ging noch einen Schritt weiter, überbot den Vater gleichsam an reiner Lehre. Der Sohn sagt dem Vater den Kampf an, aber über Umwegen, denn als Vater war Willy Brandt ungemein tolerant und als Politiker eher ein Hoffnungsträger. Von der trotzkistischen Warte aus konnte Peter Brandt das bestehende politische System der Bundesrepublik kritisieren und einen eigenständigen politischen Weg jenseits der SPD reklamieren. Er stieg auf einen höheren Turm als der Vater, stapelte mehr Begriffe als dieser und sah somit klarer und deutlicher, was unter ihm lag. In dieser politischen Wahl steckten viele Sehnsuchtsmomente, denn der Trotzkist sucht ja besonders nachdrücklich die bessere, die gerechtere Welt. Aber dieser Weg ist derart hart und steinig, steigend und unabsehbar, dass die Gefahr besteht, dass die vielen Sehnsüchte des Lebens der einen sehr fernen Sehnsucht geopfert werden. Und das spielerische Basteln, das heitere Schweben über den Dingen oder in diesem Fall über den Begriffen, war Peter Brandt nicht gegeben. Er biss sich in der Materie fest.
Unerbittlich sich selbst gegenüber?
Der Bart ist noch nicht ab. Er ist eine Klammer, ein Treueschwur, ein Gesinnungswappen, ein Steg ins Gestern, der Bart ist Identitätsmerkmal und Zeichen der
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