Die Familie Willy Brandt (German Edition)
nicht mit uns beginnt und nicht mit uns endet, des langen Marsches der Menschheit durch die Zeit? Und kann es ein Trost sein, je nach Kräften daran mitgewirkt zu haben, diese Welt ein wenig friedlicher, gerechter, freundlicher zu gestalten? August Bebel sprach wiederholt vom ›Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit‹, das die Sozialdemokraten schaffen wollten. In diesem Sinne gehört Claus Noé bei aller Nüchternheit des Denkens zu den Weltverbesserern.«
Mitte April. Der März 2013 ist so kalt gewesen, dass ihn die Menschen lange in Erinnerung behalten werden, obwohl heutzutage – der Liveticker regiert, die Deadline droht – kaum etwas lange in Erinnerung bleibt. Heute Sonne. Dieser Text muss bald fertig sein, lieber Herr Brandt, aber wenn Sie jetzt anriefen, ließe ich den Schreibtisch sein und stieße mit Ihnen an.
Aber Sie stecken im Tisch.
Und ich stecke da auch.
Das Haus, das Willy heißt
Das Haus, das Willy heißt, das Willy-Brandt-Haus in Kreuzberg, hat Willy Brandt nie betreten, und wenn wir mal ehrlich sind, war dieses Haus weder für ihn geplant, noch hatte ihm jemand diesen Namen geben wollen. Das einzige Haus, das Willy Brandt in seinem Namen bauen ließ, begleitete ihn nicht lange. Das Haus in Unkel, in das er ausgerechnet am 9. November 1989 einzog und so den Mauerfall verschlief, weil noch kein Fernsehgerät angeschlossen war, wurde ein Ort zum Abschiednehmen und Aus-der-Welt-Gehen. Adresse: Auf dem Rheinbüchel 60. In diesem Haus starb Willy Brandt am 8. Oktober 1992. Somit war das Haus, das – wie seine Kinder fanden – nicht zu ihm passte, zu seinem Totenhaus geworden.
Der Deutsche trägt eine große Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden in sich, hier, im Eigenheim, will er seine Heimat, seine Ruhe, seine Behaglichkeit finden, dieser Traum ist zäh und vital: »Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause« oder »Auf diese Steine können sie bauen«, diese alten Slogans kennt hierzulande jedes Kind. Doch Willy Brandt hat sein Schicksal nie mit einem Haus aus Stein und Stahl verbunden, seine Häuser waren eher luftig, Ideengebäude, seine Häuser findet man in seinen Reden zur Deutschland- oder Europapolitik, wo Metaphern wie »das gemeinsame Dach« Menschen verbinden sollen, die tatsächlich noch getrennt leben durch Grenzen, Kulturen, Währungen und die Geschichte. Die Häuser, in denen er lebte, in Lübeck, Oslo, Stockholm, in Berlin oder in Bonn, gehörten nie ihm, sie waren geliehen, gemietet, auf Zeit bezogen. Als Bauherr eines Eigenheims wollte sich Brandt nie verewigen, dieser Ehrgeiz, dieses steinerne Unsterblichkeitskonzept, war ihm fremd. Viel Platz hat er privat ohnehin nie gebraucht. Manch einer, der seine privaten Räume in der Villa auf dem Venusberg besichtigte, Kiefernweg 12, erschrak über die engen und niedrigen Räume, in denen immerhin der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wohnte. Kein Wunder, denn die Kämmerchen unter dem Dach, die Willy Brandt bezog, dienten zuvor als Dienstwohnung des Hausmeister-Ehepaares. Brandts Ich brauchte keine Pfauen-Räume.
Das Haus, das Willy heißt, sieht von oben aus wie ein Tortenstück. Es steht in Kreuzberg, da, wo die Stresemannstraße und die Wilhelmstraße im spitzen Winkel aufeinanderstoßen. Am 9. November 1993 wurde hier symbolträchtig der Grundstein gelegt. Kreuzberg sollte es sein, denn hier im alten Arbeiterbezirk nahe der neuen Macht in Mitte, hatte sich auch die Parteizentrale der SPD in den dreißiger Jahren befunden, Lindenstraße 3, bis die Nazis das Haus 1933 stürmten. Jetzt – nach dem Hauptstadt-Umzugsbeschluss, für den Willy Brandt leidenschaftlich plädiert hatte – zog es auch die SPD heim. Die neue Parteizentrale entstand nach Plänen aus der Schublade, denn die brachliegende leere Fläche hätte schon im Zuge der Internationalen Bauausstellung 1984 bebaut werden sollen, doch die Pläne des Architekten Helge Bofinger blieben unverwirklicht. Jetzt fanden sie in der SPD einen Abnehmer. So wurde aus dem geplanten Wohn- und Geschäftshaus, das sich an die historische Traufhöhe von 22 Metern hält, schließlich die Parteizentrale der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ein Bau aus hellem Kalkstein, viel Glas und Stahl. Das Präsidium trifft im sechsten Stock zusammen, der Parteivorsitzende residiert ein Stockwerk tiefer, und Willy Brandt steht überlebensgroß im Atrium des Hauses. Die Bronzeskulptur des Künstlers Rainer Fetting ist zu einem markanten und medial äußerst weit
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