Die Familie Willy Brandt (German Edition)
nicht zueinander, die Strategien ihrer Selbstrettung sind denkbar verschieden, er ist der Tragiker, sie ist die Ironikerin, er wühlt in sich, sie will aus sich heraus, er verarbeitet Erlittenes durch wiederholtes inneres Erleiden, sie hält das für selbstverfassten Schmerz, für lähmende Selbstbespiegelung. Der Sohn ist in diesem Konfliktmuster dem Vater viel näher als der Mutter, weil er wie der Vater zu melancholischen Forschungsreisen neigt.
Jeder der Söhne hat eine andere Mutter. Was Rut Brandt mit Peter verbindet, verbindet sie nicht mit Lars, und Matthias wiederum hat noch einmal eine andere Beziehungsgeschichte mit ihr. Peter und sie verpassen einander oft, auch wenn sie sich treffen, und die Mutter entlässt ihn wohl nie aus der doppelten Bindung: Er muss den abwesenden Mann ersetzen (was naturgemäß kein Sohn kann), und er soll zugleich das Kind bleiben, das ihr Geborgenheit vermittelte (was auch eine unmögliche Forderung darstellt). So sieht die Mutter im ältesten Sohn, der längst sein eigenes Leben lebt, immer einen anderen, der dieser aber gar nicht sein möchte.
Die bleiernen achtziger Jahre enden für Peter Brandt hoffnungsvoll, doch die rasche, die jähe Ernüchterung, ja die Depression folgt rasch. Michael Gorbatschows Reformpolitik der Perestroika lässt alte Gewissheiten bröckeln, die gesamte erstarrte Tektonik des Ostblocks gerät in Bewegung, ein weltumspannendes Beben kündigt sich an. Frühling 1989. Peter Brandt ist sich sicher, dass in den nächsten fünf Jahren die Mauer fällt, dass ein neues deutsch-deutsches Miteinander beginnt, dass man das Wort »deutsche Einheit« zumindest mal wieder entstauben sollte und der Sozialismus als ein freiheitlicher wieder eine Zukunft hat. Wie rasend schnell dieser Prozess dann einsetzt, wie abrupt die greisen Machthaber zu fahlen Gespenstern werden und wie rasch die DDR implodiert, hatte er nicht geahnt. Als er dem »Spiegel« im Juli 1989 einen Artikel schickt, in dem er über mögliche Szenarien der deutschen Einheit nachdenkt, lehnt man dankend und skeptisch ab. Der Ressortleiter Innenpolitik Wolfram Bickerich antwortet: »Sehr geehrter Herr Brandt, schöne Sätze, kluge Kombinationen. Aber ist wirklich die deutsche Einheit plötzlich wieder in aller Munde? Waltet da nicht ein Wunsch? Ich gebe zu: Die Sonntagsreden von heute, eine gemeinsame deutsche Zukunft sei innerhalb irgendwelcher europäischer Häuser denkbar, sind natürlich, dank Gorbatschow, ein bisschen realer als zu Adenauers Zeiten. Aber utopisch sind sie weiterhin, solange völlig unklar ist, wohin die Altherren-Regierung ihre DDR treibt.
Zu deutsch: Ich halte Ihre Überlegungen für verfrüht. Erst mal muss und wird noch viel passieren, und hoffentlich nicht allzu Schlimmes, bis es auch nur annähernd in diese Richtung gehen kann.« Was in den nächsten Monaten geschah, der Fall der Mauer, der Rücktritt Honeckers und die totale Implosion der DDR hatte niemand vorausgesehen, weder der »Spiegel« noch Peter Brandt oder sein Vater, der ab November 1989 auf zahlreichen Massenkundgebungen in der DDR sprach und euphorisch bejubelt wurde. Auch deshalb hatte sich die SPD bei der vorgezogenen Volkskammerwahl am 18. März 1990 größte Chancen ausgerechnet, bis zu 53 Prozent der Stimmen waren prognostiziert worden, zumal im Osten viele frühere SPD-Hochburgen lagen. Bei dieser Wahl würden die Weichen für den weiteren Prozess der deutschen Einheit gestellt. Würde Helmut Kohls nationale Dampfwalze obsiegen oder fände sich eine linke Mehrheit, die dem Sozialismus eine neue Lebenschance einhauchen würde? Eine linke Mehrheit, die Kohls gieriger Republik ein anderes Deutschland entgegensetzen könnte? Vor diesem Hoffnungshintergrund waren die 21,9 Prozent, die die SPD erzielte, eine Katastrophe. Ein spürbar angeschlagener Peter Brandt schreibt am 3. April 1990 an Willy Brandt: »Lieber Vater, langsam beginne ich mich vom 18. März zu erholen, an dem meine gesamte politische Konzeption zusammengebrochen ist. Ob aus der konjunkturellen Mehrheit der Liberal-Konservativen eine strukturelle wird, muss man natürlich erst einmal abwarten, aber manches wird ggf. gar nicht mehr zu korrigieren sein. Ein Wahlerfolg der SPD und eine deutliche Mehrheit links von den Liberalen wäre nicht nur für den deutschen Einigungsprozess wichtig gewesen, sondern auch, um den Trend nach rechts in Osteuropa zu brechen. (…) Mir ist noch nicht hundertprozentig klar, was das für die Zukunft des
Weitere Kostenlose Bücher