Die Familie Willy Brandt (German Edition)
verbreiteten Symbol für die Berliner Republik geworden. Wer in den Nachrichten diesem denkschweren Kopf aus Bronze begegnet, weiß, jetzt geht es um Politik, um die SPD, um Wahlkampf, um Willy Brandts Enkel und Urenkel oder um den nächsten Kanzlerkandidaten. Aber den Mann aus Bronze mal außer Acht gelassen: Wo ist Willy Brandt hier noch anzutreffen? Findet man so etwas wie seinen Geist?
Zunächst einmal findet man ein Bistro, das heißt »Willy’s«. Die digitale Speisekarte verspricht: »Großen Wert legen wir auf eine vitale, ernährungsbewusste Kost, denn Genuss und Ihre Gesundheit liegen uns sehr am Herzen. Wir möchten Sie mit unserem freundlichen, kompetenten Personal, dem sorgfältig ausgewähltem Speisen- und Getränkeangebot optimal umsorgen, damit Sie und Ihre Gäste sich wohl bei uns fühlen!« Das ist der Sound der neuen Dienstleistungsgesellschaft, das ist Sound der asketischen Republik, in der ein qualmender Ex-Bundeskanzler auch schon mal angezeigt wird, in der wir joggen, Rad fahren und allzu fette Speisen meiden. Ob Brandt, der ein Liebhaber rustikaler Hausmannskost war, sich hier wohlgefühlt hätte? Mitarbeiter im Willy-Brandt-Haus beklagen, dass es keine Kantine mehr gibt, so wie früher im Erich-Ollenhauer-Haus in Bonn, wo sich Willy Brandt wie jeder andere in der Kantine niederließ und inmitten des Parteivolks speiste. Heute hasten die Mitarbeiter in der Mittagspause in ein gegenüberliegendes Restaurant oder sie gehen ins »Willy’s«, nicht ohne einen Blick auf die digitale Speisekarte zu werfen, denn die kann man sich zuschicken lassen. Aber meistens verlassen die Mitarbeiter ihre Büros gar nicht und verzehren lieber Mitgebrachtes.
Die Willy-Brandt-Skulptur von Rainer Fetting wird enthüllt, Berlin 1996.
[picture alliance/dpa]
Neben dem »Willy’s« findet sich der Image-Shop, der die SPD-Basis mit mutmachenden Devotionalien, Werbeartikeln und Seelen- und Stimmzettel-Ködern jeder Art bestückt. Da gibt es SPD-Badeenten, Gummibärchen (18 Gramm pro Tüte, bunt gemischt), es gibt T-Shirts, Büroklammern, Tassen, Lineale, Plüschbären, Schlüsselbänder, Feuerzeuge, Trillerpfeifen, Fußbälle, Toaster – Halt! Beim Toaster (27,60 Euro) müssen wir verweilen. Er hat nicht nur eine Krümelauffangschale, nein, er ist natürlich rot, und die drei magischen Buchstaben »SPD« leuchten weiß auf rotem Grund. Aber noch besser ist, dass der SPD-Toaster das SPD-Logo auch auf die Toastscheibe röstet, so dass sich der frühstückende Genosse seine Partei gleich frühmorgens mit Butter bestreichen und in einem Akt von Transsubstantiation in den Rachen schieben kann. Natürlich gibt es auch Willy-Brandt-Artikel. Es gibt Willy-Brandt-Reden auf CD, es gibt zwei Willy-Brandt-Poster (59 x 85 Zentimeter), einmal stehend-redend und einmal kniend in Warschau, und es gibt ein »Postkartenset Willy Brandt« (10,90 Euro). Nicht vergessen werden soll die rote Fliegenklatsche mit dem aufmunternden Killerappeal »Gegen politische Eintagsfliegen«. Wer soll damit bloß erledigt werden? Die Linke? Die Piraten?
Verlassen wir nun den Image-Shop und betreten das Atrium des Willy-Brandt-Hauses. Die SPD beschreibt den architektonischen Leitgedanken des Haues so: »Die unverspiegelte Verglasung betont die Transparenz des Willy-Brandt-Hauses, das keine geschlossene Polit-Zentrale sein will, sondern ein offenes Haus, ein Kommunikationsmittelpunkt für Kultur und Wissenschaft.« Das meint vor allem den Blick von außen auf das Haus, aber im Inneren des Hauses stößt man auf andere Hindernisse. Offenheit und Zugänglichkeit wird versprochen, aber wer die Stockwerke betreten will, braucht einen Mitarbeiter an seiner Seite, der ihm die zahlreichen Türen mit einer Chipkarte öffnet, denn ohne die kommt man nicht sehr weit. Und nicht jeder Mitarbeiter kommt überall hin, es gibt verschiedene Karten, die nur bestimmte Bereiche und Ebenen öffnen, so dass das ganze Haus von einem feinen hierarchischen Netz und Machtgewebe durchzogen ist. In Bonn ging jeder zu jedem, man ging über lange Flure, und plötzlich kam einem Willy Brandt entgegen, in sich versunken, kaum grüßend, aber man traf ihn. Heute ist der Parteivorsitzende ein Unsichtbarer, oben im fünften Stock, verborgen hinter vielen Schranken und Türen ein Anwesend-Abwesender. Aber das gilt für viele Mitarbeiter in ihren Büros, die mit ihren Bildschirmen kommunizieren und im Intranet auch den Kontakt zu den Kollegen im eigenen Haus halten. Manche
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