Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Mitarbeiter sind regelrecht erschrocken, wenn plötzlich ein Kollege aus dem vierten Stock persönlich bei ihm auftaucht. Warum schickst Du die Papiere denn nicht als pdf? Etwa 200 Mitarbeiter sind im Willy-Brandt-Haus fest angestellt, manche haben sich noch nie gesehen.
Auf den Fluren hängt viel moderne Kunst. Geschmackvoll ausgesucht: Die »Sammlung im Willy-Brandt-Haus« besteht mittlerweile aus mehr als 2000 Gemälden, Zeichnungen, Graphiken und Skulpturen, die oftmals einen Bezug zur Sozialdemokratie haben. Aus der klassischen Moderne enthält die Sammlung Werke von Otto Dix, George Grosz, Conrad Felixmüller, Walter Dexel und Max Beckmann. Die Nachkriegsgeneration ist mit Arbeiten von Hans Ullmann, Heinz Trökes und HAP Grieshaber vertreten. Für die zeitgenössische Moderne wurde mit Bedacht ein Schwerpunkt gewählt: Sie zeigt vor allem Künstler aus der ehemaligen DDR, die sich in ihrem Schaffen unter der SED-Kunstdoktrin nur schwerlich entfalten konnten. Ich vermute, Willy Brandt wäre nur selten vor einem der Bilder stehen geblieben.
Die Menschen im Willy-Brandt-Haus, die den Parteivorsitzenden noch persönlich kennengelernt haben, machen sich rar. Die meisten Mitarbeiter des Erich-Ollenhauer-Hauses haben den Umzug von Bonn nach Berlin nicht mitgemacht, viele sind verstorben, viele längst im Ruhestand. Aber es gibt noch Wolfgang Briese. Er hat 1968 als fünfzehnjähriger Lehrling eine Ausbildung in der Poststelle der Parteizentrale begonnen. Früher war alles anders. Früher war eine andere Zeit. Früher war früher.
»Früher warst Du ein Teil der Familie. Heute? Da liegen Welten dazwischen. Früher hielten alle zusammen! Heute?«
Wolfgang Briese ist der Einzige im Willy-Brandt-Haus, der mich sofort duzt, ohne eine »Genehmigung« einzuholen. Seine handfeste Herzlichkeit gepaart mit seinem rheinischen Singsang vermittelt eine Ahnung, wie sich das Früher angefühlt haben muss. Er ist ein Mann im Zeitstrom, umspült von taumelnder Gegenwart. Er setzt sich. Er bleibt sich gleich. Als er Wehner eines Tages zu Hause die Post zustellt, zu leicht bekleidet für die herbstliche Jahreszeit, veranlasst der Fraktionsvorsitzende persönlich, dass der Junge eine wärmende Jacke bekommt. Überhaupt Wehner, über den kann Wolfgang viel Familiäres erzählen, zum Beispiel, dass er seiner sterbenden Frau im Krankenhaus immer auf der Mundharmonika vorgespielt hat. Früher! Ja, früher!
»Ich bin glücklich, dass ich die schönen Zeiten noch miterlebt habe!«
Als ich Wolfgang Briese erzähle, dass ich ein Buch über die Familie Brandt schreibe, sagt er spontan: »Dem sein Kind war die Ostpolitik, dafür hat er alles getan, das war sein Kind.«
Einmal in der Woche musste der Lehrling Wolfgang dem Parteivorsitzenden große Fotos zum Signieren ins Büro tragen, die wurden dann an verdiente Genossen geschickt, an solche, die Jubiläen der Zugehörigkeit oder einen hohen runden Geburtstag feierten.
Wolfgang Briese spielt die Szene nach.
»Ist die Thea da?«, fragte Brandt.
Thea Wernicke war Brandts gestrenge und treue Chefsekretärin.
Wolfgang schüttelte den Kopf.
»Na, dann hol uns mal die Flasche aus dem Schrank!«
Wolfgang holt die Flasche Kognak. Willy schenkt zwei Gläser ein: »Prost!«
»Na, dann bring die Flasche mal schnell wieder weg!«
Wo steckt Willy in dem Haus, das Willy heißt? Ich treffe einen Mitarbeiter mit flauschigem Retrobart: »Können Sie mir sagen, wo ich bei Ihnen Willy Brandt finde?«
»Für mich wird seine Präsenz von Egon Bahr verkörpert. Er hat hier noch sein Büro und ist oft da. Der Egon geht ganz verlässlich durch die Gänge, er schwebt lautlos über die Flure, ganz langsam, und erinnert mich an Willy Brandt, er ist sein Statthalter. Ich kann die beiden nicht trennen, obwohl ich weiß, dass Brandt ebenso für sich steht wie Egon Bahr. Ja, er kommt mir vor wie eine Erscheinung aus einer anderen Zeit.« Egon Bahr ist wohl auch der Einzige, der sich nicht in das unansehnliche Raucherstübchen unterm Dach quälen muss, sondern noch in seinem Büro einen Aschenbecher beherbergt und ihn auch fleißig mit Asche füttert. Mit jeder Zigarette glimmt das Gestern auf.
Peter Brandt ist der Einzige aus der Brandt-Familie, der dem Haus einen Besuch abgestattet hat, der hier, im Atrium, diskutiert oder Vorträge gehalten hat. Lars und Matthias scheuen Brandt-Orte wie diesen, öffentlich ausgewiesene Brandt-Zonen. Peter Brandt schätzt auch Rainer Fettings Skulptur, die er bereits vor der
Weitere Kostenlose Bücher