Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Sozialismus bedeutet. Ich dachte immer, ich würde mir wenig Illusionen über den real existierenden Sozialismus machen, aber offenbar habe ich die Dinge noch zu rosig gesehen, jedenfalls hinsichtlich der Vorstellung, nach einer politischen Umwälzung die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – bei gewissen Zugeständnissen an den Weltmarkt – demokratisch umgestalten zu können. (…) Ohne den Primat der Politik über die Ökonomie sehe ich für die Lösung der Menschheitsprobleme schwarz.«
Was macht ein Wissenschaftler, um sich aus diesem Tal der Tränen zu befreien? Er setzt sich an seinen Schreibtisch und arbeitet weiter. Zwei Jahre nach der Volkskammerwahl erscheint ein Buch von Peter Brandt und Dieter Groh mit dem Titel »Vaterlandslose Gesellen. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990«, das anhand der Quellen aufzeigt, dass die Sozialdemokratie einen selbstbewussten linken Patriotismus pflegte und keineswegs aus »vaterlandslosen Gesellen« bestand.
Die neunziger Jahre sind sowohl im Politischen wie im Privaten Jahre des Umbruchs und der Festigung. Peter Brandt, der ab 1990 eine ordentliche Professur in Hagen bekleidet, heiratet 1991 ein zweites Mal. Als er dem Vater seine angehende Schwiegertochter vorstellt, ist der regelrecht verlegen und unbeholfen. Der Protestant Peter Brandt und seine katholisch getaufte Frau Antonia, die heute an einer konfessionellen Schule als Religionslehrerin arbeitet, heiraten nach katholischem Ritus, eine befreundete evangelische Pastorin verleiht der Zeremonie einen ökumenischen Aspekt. Antonia bringt mit Tanja und Anton zwei Kinder in die Ehe ein, so dass Peter Brandt nunmehr ein Patchworker ist, der sich in verschiedenen Familienkreisen zu bewegen und diese zu verbinden hat. Und natürlich gehört zu diesem Patchwork auch der Schreibtisch. In welche familiäre Kategorie gehört eigentlich der Schreibtisch eines Mannes, der mit ihm existentiell verbunden ist? Zwar werden dem Schreibtisch selten Liebeslieder gesungen, aber ein Familienmitglied ist er in jedem Fall. Mal wird er als Despot, als Heimat, als Zelle, als Hafen, als Abenteuer oder Asyl wahrgenommen. Man kann ihn verlassen, entlassen ist man noch lange nicht.
Was ist mit der Karteikarte? Was ist mit dem Aischylos-Zitat »Schmerz, der nicht vergehen will«, das am Ausgangspunkt dieser biographischen Skizze stand? Warum übereignet sich einer, der sicher ein Talent zur Schwermut besitzt, nicht der Verzweiflung? Ich denke, davor schützen Peter Brandt mindestens drei oder vier Eigenschaften. Sein Talent, Freunde zu finden und Freundschaften über Jahrzehnte zu pflegen, auch wenn man den Freunden manche Stunde schuldig bleibt. Sein intellektuelles Distanz- und Differenzierungsvermögen. Die eigenen Zweifel und Niederlagen in größere Zusammenhänge einordnen zu können, hilft ungemein. Sich selbst sub specie aeternitatis zu betrachten, relativiert manch tagesschweren Kummer. Und einen festen Kompass innerer Werte zu besitzen, ist ebenfalls ganz hilfreich in stürmischer See. Wie schwer es unter gegenwärtigen Bedingungen auch sein mag, Peter Brandt hält an der Idee einer gerechteren Welt fest und engagiert sich dafür. Und schließlich ist es die Familie, die einen hält und bindet, die fordert und fragt. Wer Vater geworden ist, wird sich nicht freimachen von dem Gedanken, dass er selbst einmal Kind gewesen ist, und sich fragen, wie es gewesen wäre, sich selbst als Vater anstatt des Vaters als Vater gehabt zu haben. Wo unterscheide ich mich von ihm?
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch auf zwei Briefpassagen eingehen, die viel über Peter Brandt und seine familiären Prägungen erzählen. Der erste Auszug gilt Peter Brandts Tochter Karoline, die nach der Trennung der Eltern im mütterlichen Haushalt aufwuchs. Vater und Tochter sahen und sehen sich regelmäßig, aber in Zeiten, wo ein Zusammentreffen längere Zeit nicht zustande kommt, schreiben die beiden einander. Karoline besitzt ein großes Talent, in gestochener Handschrift kleine Romane auf ihren Postkarten an den Vater zu verstauen, und wann immer sie mit der Mutter in den Urlaub und die Ferne zieht, schreibt sie. So hält es der Vater. Er schreibt der sechzehnjährigen Tochter am 25. Juli 2000 nach einem Gastvortrag in Petersburg: »Liebe Karoline, über Deinen Brief vom 14. d.M. (die Hundeansichtskarte) habe ich mich riesig gefreut. Ich war etwas erschöpft und nicht so guter Dinge gewesen, aber dann ging die Sonne gleich wieder
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