Die Familie Willy Brandt (German Edition)
die Wahl seiner letzten Ruhestätte. In der Marinesiedlung am Schlachtensee lebte die Familie Brandt länger zusammen als an irgendeinem anderen Ort, von 1950 bis 1964. Hier hat Brandt seine Familie begründet, hier hat der unruhige Wanderer, so gut er konnte, Wurzeln geschlagen, hier, in Berlin, hat er Karriere gemacht.
Brandt hat um Berlin gekämpft, wie um kaum etwas anderes in seinem Leben. Das Schicksal der Stadt hat er buchstäblich mit dem seinen verbunden. Er wollte nach Berlin, nicht Rut. Er witterte die Chancen, er sah die Aufgabe, hier lag sein Weg, hier lohnten der Streit und der Schweiß. Im Exil hatte Brandt früh begriffen, erspürt und erlitten, was es heißt, Teil der Geschichte, der Weltgeschichte zu sein, von ihr rücksichtslos hin und her gestoßen zu werden. In Berlin, der viergeteilten, besetzten, zerbombten und zerschossenen Stadt, konnte man der Weltgeschichte den Puls fühlen. Und bestenfalls ließ sich hier selbst mitdrehen am Rad der Geschichte. Brandt wollte das. Er wollte nicht im bequemen, aber schläfrigen Oslo bleiben, er wollte nicht in die Vergangenheit zurückkatapultiert und Bürgermeister in Lübeck werden, er wollte keinen sicheren, gut bezahlten Job in der westdeutschen Provinz. Er suchte den steinigen, den dornigen Weg. Er wollte Macht. Dass es hart werden würde, hatte er wohl vorausgesehen, wie sehr ihn das beuteln würde, eher nicht. Als er 1947 nach Berlin ging, konnte er noch als junger Mann gelten, doch als er die Stadt 1966 verließ, um in Bonn Außenminister zu werden, war er schon fast ein alter, müder Mann, der kaum noch daran geglaubt hatte, höchste Ämter zu erreichen. Berlin hatte ihn vor der Zeit alt gemacht, aber ihn auch zu einer ihm gemäßen Rolle und politischen Identität finden lassen. Berlin hat ihn ausgesaugt, aber auch vollgepumpt mit Erfahrung und Kenntnis, diese Stadt hatte ihn gepackt und nicht mehr losgelassen.
Ich bin den Weg zwischen dem Waldfriedhof und der Marinesiedlung einige Male gegangen. Wenn man den Friedhof verlässt, wendet man sich nach links, durchquert den Wasgensteig, der in die Wasgenstraße mündet. Man passiert die Johannes-Tews-Grundschule, hier wurden Peter und Lars eingeschult. In der Matterhornstraße lag der Wochenmarkt, auf dem Rut Brandt regelmäßig einkaufte, hier befindet sich die evangelische Johanneskirche, in der Peter und Lars konfirmiert und Matthias getauft wurden, hier sprach Pfarrer Manfred Karnetzki schließlich 2006 die Trauerworte für Rut Brandt. Die Matterhornstraße stößt auf die Breisgauer Straße, wo sich früher das »Lumina« befand, ein ehrwürdiges, längst verlorenes, von einem Supermarkt verdrängtes Kino, das Willy Brandt bisweilen mit den Kindern besuchte und wo ihm der Kopf vor Müdigkeit auf die Brust sank. Und gleich um die Ecke erprobte sich Peter Brandt das erste Mal als rebellisches Kind. Aber vor diesem frühkindlichen Widerstandsakt musste das Kind erst mal zur Welt kommen.
Peter Willy Brandt, der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt, wird am 4. Oktober 1948 in Berlin geboren. Ein echtes Berliner Blockade-Kind. Es ist die Zeit der Stromsperren, Zeit der brummenden Rosinenbomber. Die Kinder knien im Staub und spielen mit ihren Modellfliegern Luftbrücke. Peter kommt bei Kerzenlicht zur Welt. Es ist eine schwere Steißgeburt. Der werdende Vater ist in Westdeutschland unterwegs. Dafür ist sein getreuer Fahrer zur Stelle und fährt Rut ins Krankenhaus. Die Arztrechnung muss in Naturalien beglichen werden: Margarine, Zucker, Mehl. Der Vater findet den Säugling ein bisschen klein, runzelig, aber, so Vater Brandt: »Er kann ja noch wachsen!« Der Junge ist ein paar Jahre darauf bereit, die nächste Etappe seines Lebens anzugehen: den Kindergarten.
Vaterstolz: Willy Brandt fährt den erstgeborenen Sohn Peter spazieren, Berlin 1949.
[Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung]
»Ich weiß nicht mehr genau«, erzählt Peter Brandt, »wie alt ich war, als ich in den Kindergarten der evangelischen Kirche kommen sollte, drei oder vier Jahre vermutlich. Eines Tages gingen meine Mutter und ich dorthin, um mich anzumelden. Wir wurden von einer ernst blickenden Schwester empfangen, die in ihrer schwarzen Ordenstracht besonders streng aussah. Ich besaß damals einige Kasperlepuppen und fragte die Schwester, ob ich die mitbringen könne. ›Ja, die kannst du mitbringen!‹, sagte sie. Offenbar habe ich da bereits einen Verdacht geschöpft, denn ich fragte weiter: ›Darf ich
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