Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Niederlage, die er im Juli beim SPD-Bundesparteitag hinnehmen muss. Bei den Wahlen zum Parteivorstand fällt er krachend durch. Bei Brandt setzt sich der Eindruck fest, nicht gewollt und abgelehnt zu werden. Zur niederschmetternden Gewissheit scheint sich diese Einschätzung zu verdichten, als er 1956 zum zweiten Mal nicht in den Parteivorstand gewählt wird. Diesmal findet der Bundesparteitag in München statt. Um sich zu entspannen, absolvieren die Delegierten nach der Wahl eine Dampferfahrt auf dem Starnberger See, das Ergebnis soll erst am nächsten Tag bekanntgegeben werden, doch die Ergebnisse sickern unter der Hand durch. Brandt hat nur 194 Stimmen erhalten, nein, man will ihn nicht. Es ist mehrfach überliefert: Tränen laufen ihm über das Gesicht. Er schreibt am 15. Juli 1956 an seine Frau: »Ich bin übrigens sehr traurig, fast verzweifelt. In München ist es katastrophal gelaufen. Sie wollen mich auch diesmal nicht dabeihaben. Das ist heute in allen Zeitungen zu lesen. Politisch lief es besser als erwartet, aber das macht die persönliche Niederlage nur umso schwerwiegender. Neumann hat wieder einmal getan, was er konnte [ … ] . Ich werde wohl darüber hinwegkommen, aber im Moment habe ich die größte Lust, zum Eremiten zu werden. Gruß und Umarmung, Dein Willy.«
Brandt verzweifelte an der Einsicht, dass ihm die eigenen Leute, die Genossen, absprachen, zu wissen, was die Menschen umtrieb, wo sie der Schuh drückte, welche Politik die richtige für sie war. Er war, so lauteten die Vorwürfe, doch ein Sonnyboy, lebte vom Alltag der Menschen abgehoben, hatte keine Ahnung, was man im »Dritten Reich« alles zu erdulden hatte, während er im sicheren, warmen Emigrantennest gehockt und gewartet hatte, bis der braune Spuk vorüber war. War es nicht feige, aus Deutschland zu fliehen, während Leute wie Franz Neumann den Kopf hinhielten? Das Niveau dieser denunziatorischen Einflüsterungen war erbärmlich, aber blieb nicht doch was hängen? Und dass es die eigenen Leute waren, die dieses Gift spritzten, wäre wohl auch einer robusteren Natur als Brandt an Nerven und Nieren gegangen.
Das Blatt wendet sich nur langsam. Brandt gelingt es in mühevollen »Kleinkriegen« (Reden, Schreiben, Flüstern, Versprechen, Trinken), aber doch Schritt für Schritt, dass man ihn in der Öffentlichkeit als legitimen Erben des 1953 verstorbenen Bürgermeisters Ernst Reuter wahrnimmt. Der charismatische Politiker hatte Berlin gegen den kommunistischen Zugriff verteidigt und den Seelenton der gemarterten Stadt getroffen, als er 1948 vor dem Reichstag sprach. Seinen Appell »Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!« hatte er nicht nur den 300000 Berlinern, sondern der ganzen Welt zugerufen. Und das klang im Angesicht der Berliner Blockade wahrhaftig und angemessen pathetisch zugleich. Er gab den eingeschlossenen Berlinern das Gefühl, in ihrer Stadt die Freiheit der ganzen Welt zu verteidigen, und zugleich vermittelte er ihnen die Zuversicht, dass die freie Welt diese Botschaft hörte und zu Hilfe eilte. Nach Ernst Reuters Tod, der für Brandt Mentor, Ratgeber und väterlicher Freund war, blieb die Heldenstelle, der Pathos-Thron verwaist. Reuters Nachfolger blieben blasse Interimskandidaten, denen es nicht gelang, der Stadt Stimme, Ausdruck und Gesicht zu geben. Die Chance, diese Leerstelle zu füllen und zum Berliner Freiheitskämpfer aufzusteigen, ergab sich für Willy Brandt im November 1956, nachdem die sowjetischen Panzer den Ungarnaufstand blutig niedergewalzt hatten. Am Abend des 5. November war die Stimmung im Westteil der Stadt explosiv. Hunderttausende hatten sich zur großen Freiheitskundgebung vor dem Schöneberger Rathaus versammelt. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war den Berlinern noch in naher, schmerzhafter Erinnerung. Die sowjetischen Panzer waren das sichtbare Zeichen für politische Unterdrückung, persönliche Freiheitsberaubung und die Spaltung der Stadt. Die Westberliner fühlten sich eingeschlossen und im Stich gelassen. Das Kollektiv – man kann es ruhig mit einem biblischen Vergleich sagen – suchte seinen Mann Moses. Es suchte einen Führer, der seinen Stab über das Rote Meer hielte, woraufhin die roten Fluten zurückwichen, sich teilten und man gefahrlos auf dem Meeresgrund wandeln konnte. Die Westberliner sehnten sich nach einem Führer, der ihnen die Fenster öffnete und sie ins Weite blicken ließ.
Willy Brandt auf dem SPD-Parteitag 1949
[picture alliance/dpa]
In dieser Nacht trat
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