Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Willy Brandt aus eigener Kraft den vakanten Heldenposten an. Die Organisatoren der Demonstration hatten die emotionale Hitze der Masse völlig unterschätzt, denn man hatte gedacht, man könne die Menschen versammeln, zu ihnen reden und sie dann wieder nach Hause schicken. Die Masse als großes, aber vollkommen brav-säuberliches Ausrufezeichen hinter den Reden der Politiker. Doch mit dieser Rolle als Ornament wollten sich die aufgewühlten Berliner nicht mehr begnügen. Die papierenen Phrasen reichten ihnen nicht. Ernst Lemmer (CDU) wird ausgebuht, Franz Neumann, der eine leidenschaftslose Rede im schlimmsten Parteikauderwelsch hält, wird ausgepfiffen und niedergeschrien. Man verlangt nach Willy Brandt, der als Redner gar nicht vorgesehen, aber natürlich zugegen ist. Rut – das ist selten genug bei solchen Ereignissen – ist an seiner Seite. Brandt greift zum Mikrophon, beschwichtigt, stockt, wringt sich die Worte aus der Brust. Viel zu bieten hat er nicht. Es solle ein Telegramm an die Vereinten Nationen geschickt werden, um gegen das sowjetische Vorgehen zu protestieren. Im Grunde genommen ist er ebenso ohnmächtig wie die wütende Masse, aber er versteckt seine Ohnmacht und Wut nicht hinter blechernen Floskeln. Brandt erhält schütteren Beifall, aber das ist unendlich viel mehr als das, was Franz Neumann erreicht hat. Die gefährliche Situation ist jedoch noch keineswegs vorbei. Ein paar tausend vornehmlich junge Menschen wollen sich nicht mit Worten zufriedengeben. Sie fordern Taten. Sie rufen »Freiheit für Ungarn«, »Russen raus!« oder »Mörderbande!«. Sie ziehen Richtung Osten, das Ziel ist die sowjetische Botschaft im Ostsektor. Am Brandenburger Tor sind bereits Volkspolizisten aufgezogen, die mit Karabinern im Anschlag in äußerster Alarmbereitschaft auf die Demonstranten warten. Brandt steigt in einen Lautsprecherwagen der Polizei und setzt sich an die Spitze des Zuges. Steine fliegen, es gibt erste Handgemenge. In Charlottenburg bringt er die brodelnde Menge das erste Mal zum Halten. Er beschwichtigt, beruhigt. Warnt. Spielt ihnen nicht in die Hände! Er stimmt das Lied vom guten Kameraden an, einige verharren, werden nachdenklich. Gleichwohl zieht die Wutwalze weiter. Das Spiel wiederholt sich. Brandt stoppt den Zug. Die Volkspolizisten greifen ihre Waffen fester, in den Seitenstraßen der »Linden« stehen einsatzbereite russische Panzer. Wenn es jetzt zum Zusammenstoß kommt, wenn die Westberliner Hitzköpfe den Polizeikordon durchbrechen, wenn sie nach Ost-Berlin vordringen und die ersten Schüsse fallen, wenn die ersten Toten zu beklagen sind, dann kann eine Eskalation, dann kann ein Krieg nicht mehr ausgeschlossen werden. Brandt klettert auf ein Auto, schnappt sich ein Megaphon. Brandt lenkt den Strom der Empörung um. Er formiert einen neuen Zug, führt die Menge weg vom Gefahrenherd Brandenburger Tor und zieht mit den Erregten vor das sowjetische Ehrenmal an der Straße des 17. Juni. Hier stehen zwei ausrangierte Sowjet-Panzer, die man gefahrlos beschimpfen kann. Brandt beschwört noch einmal eindringlich die Gefahr. Besorgt nicht das Geschäft der anderen Seite, lasst euch nicht provozieren, es hilft den Ungarn nicht. Dann stimmt er mit »schnarrender Stimme« die Nationalhymne an, und endlich gehen die Menschen nach Hause. Widerwillig zwar, aber sie zerstreuen sich. Der Mann Moses war gefunden.
Es wird spät in dieser Nacht. Spät, sehr spät kehren Rut und Willy Brandt in dieser Nacht in den Marinesteig zurück. Das ist eine seltene Erfahrung, ein seltenes Erlebnis, dass Rut in einem geschichtlichen Augenblick so eng an seiner Seite ist. Aber bevor Willy Brandt 1957 Bürgermeister wird, bevor Rut und Willy Brandt zum glamourösen Paar aufsteigen, muss man noch mal auf die ersten Jahre im Marinesteig zurückblicken. Denn obschon die Familie hier ein vergleichsweise normales, alltägliches und auch gefestigtes Leben führt, bahnen sich in diesen Jahren doch Konflikte und Entfremdungen an, stauen sich ungestillte Sehnsüchte, Verletzungen werden vorbereitet und Wunden geschlagen.
Rut Brandt hat sich in ihren Erinnerungen durchaus selbstkritisch über ihre Rolle in dieser Zeit geäußert. Sie schreibt im Hinblick auf die Auseinandersetzungen mit Franz Neumann und die innerparteilichen Kämpfe ihres Mannes: »Eine gute Stütze war ich nicht. Ich begriff nicht, wie wichtig es für ihn war, Einfluss zu bekommen. Eines Abends brach es aus ihm hervor: ›Verstehst du denn gar nicht, dass
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