Die Familie Willy Brandt (German Edition)
viele Briefe, die vor uns liegen. Brandt war ein immenser Briefschreiber, der jede Gelegenheit nutzte, um von unterwegs Nachricht zu geben. Es war seine Art, den familiären Faden zu spinnen, Versuche, den Distanzen und der vagabundierenden Existenz etwas entgegenzusetzen. Auch Ninja hat er so ins Familienleben einbezogen und ihr das Aufwachsen ihrer Geschwister nahegebracht und vor Augen gestellt. Ohne diese kontinuierliche Berichterstattung wäre es Ninja sicherlich nicht so leichtgefallen, bei ihren Besuchen in Deutschland sofort wieder in diese Familie hineinzufinden. Ich notiere nur einige Sätze – ich könnte viele andere zitieren –, die zeigen, dass Vater Brandt bemüht war, seiner Tochter den Alltag gerade in seinem ruhigen Fluss, mit seinen kleinen Entwicklungen und Veränderungen zu dokumentieren. Am 30. April 1952 heißt es: »In letzter Zeit spielt Peter den ganzen Tag Indianer. Und Lasse hat gerade angefangen, im Laufställchen herumzulaufen.« Am 28. Oktober 1954 wird gemeldet: »Peter hat mir heute erzählt, dass er weiß, was er werden möchte, wenn er groß wird: Schuster oder Naturforscher! Lasse ist immer noch ein kleiner Spaßvogel.« Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest seufzt Brandt am 22. Dezember 1954: »Ich habe sehr viel zu tun. Wir haben Wahlen gehabt und werden eine neue Regierung bilden. In den Weihnachtsferien muss ich an meinem Buch über Bürgermeister Reuter arbeiten.« Kaum weniger ereignisreich heißt es am 28. Februar 1955: »Die letzten zwei Wochen sind sehr mühsam gewesen, zuerst Sitzungen in Bonn, dann ein kurzer Aufenthalt in Kopenhagen mit 5 Vorträgen in 2 Tagen, dann wieder Sitzungen in Bonn und Berlin mit erregten Diskussionen, ob Deutschland wieder Soldaten bekommen soll. Peter war die letzten Tage mit in Bonn. Er fängt ja in ungefähr einem Monat mit der Schule an. Zurzeit ist er aber am meisten daran interessiert, sich zu verkleiden, so wie er es beim Kölner Karneval gesehen hat.« Das Familienleben läuft wie ein Daumenkino vor mir ab, familiäre Szenen überwiegen, politische Bezüge werden nicht ausgespart, bleiben aber die Ausnahme. Ninja, die die Briefe selbst das erste Mal im diachronen Querschnitt liest, ist überrascht, wie vielfältig die Briefe sind, was sie alles transportieren. Erst in der Zusammenschau begreift sie das intime Gewicht dieser Briefe, die gegen das Sich-fremd-Werden angeschrieben werden.
Das Telefon klingelt. Es ist spät geworden. Es ist Janina, die fragt, ob ihre Mutter in den nächsten Tagen zu Ikea mitkommen will, Kindermöbel kaufen.
»Wann ist der Geburtstermin?«
»In der letzten Oktoberwoche.«
»Dann hat dein Enkelkind vielleicht mit dir Geburtstag?«
»Ja, vielleicht!«
»Ihr seid fast alle Oktoberkinder, du, Peter und Matthias.«
»Ja, und Peters Tochter Karoline hat auch im Oktober Geburtstag.«
Der Regen hat nachgelassen. Ringsumher sind in den Häusern die Lichter angegangen. Ich schalte mein Aufnahmegerät aus.
»Vielleicht musst du noch einmal anschalten, da hab ich noch was Interessantes für dich und das Thema.«
Es ist ein Brief, den Ninja von ihrem Vater erhielt, als sie am 30. Oktober 1961 volljährig wurde. Wenige Wochen zuvor war Matthias Brandt am 7. Oktober in Berlin geboren worden. Ihr Vater schreibt am 27. Oktober: »Liebe Ninja, es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl: Hier ist ein ganz kleiner Weltbürger – dort eine grosse Tochter, die ihren 21. Geburtstag feiert. Alle meinen guten Gedanken sind bei Dir an diesem Tag, und alle guten Wünsche werden Dich auf Deinem Lebensweg begleiten. Ich hoffe, dass Dir Deine Arbeit gut gefallen wird. Und ich hoffe, genauso stark, dass Du all das Glück findest, was Du verdient hast. Rut und die Jungen schliessen sich an diese Glückwünsche an. Grosse Umarmung! Papa.«
»Dørene lukkes!«, sagt die Lautsprecherstimme in der U-Bahn und schon schließen die Türen. Ich habe das oft gehört in den letzten Tagen. »Die Türen schließen!«
Am nächsten Morgen ist der Himmel verwaschen grau. Von meinem Fenster kann ich die Küche des Hotels sehen. Zwei Frauen mit weißen Schürzen und Häubchen stehen im Hof und rauchen. Die Fahrt mit der U-Bahn kommt mir heute kürzer vor. Es ist später Vormittag. Es bleiben ein paar Stunden, ehe ich aufbrechen muss.
»Als dein Vater 1974 als Bundeskanzler zurückgetreten ist, ist er nach Norwegen gefahren. Hast du ihn in dieser Zeit getroffen, und erinnerst du dich an seine Stimmung?«
»Ich lebte in Melhus, das
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