Die Farbe der Gier
Nordturm. Anna bezahlte den Fahrer und sprang hinaus, um sich einem Meer von Arbeitsbienen anzuschließen, die zum Eingang und durch die Drehkreuze eilten. Sie nahm ebenfalls den Expressaufzug und weniger als eine Minute später trat sie auf den dunkelgrünen Teppich des Managementstockwerks. Anna 38
hatte im Aufzug einmal mitgehört, dass jedes Stockwerk eine Fläche von 4000 Quadratmetern einnahm und ungefähr 50000
Menschen in dem Gebäude arbeiteten, das niemals geschlossen war.
Anna begab sich direkt in ihr Büro und war überrascht, dass Rebecca dort nicht auf sie wartete, vor allem da Rebecca wusste, wie wichtig der Acht-Uhr-Termin war. Aber zu ihrer Erleichterung sah Anna, dass alle wichtigen Akten sauber auf ihrem Schreibtisch aufgehäuft lagen. Sie prüfte noch einmal, ob auch die Reihenfolge stimmte, die sie vorgegeben hatte. Anna hatte immer noch ein paar Minuten übrig, darum nahm sie sich noch einmal die Wentworth-Akte vor und las ihren Bericht durch. »Der Wert des Wentworth-Besitzes verteilt sich auf mehrere Kategorien. Als Erstes sollten wir in Erwägung ziehen
…«
Tina Forster stand erst nach sieben Uhr auf. Ihr Termin beim Zahnarzt war für 8 Uhr 30 angesetzt und Fenston hatte deutlich gemacht, dass sie an diesem Morgen nicht pünktlich sein musste. Für gewöhnlich bedeutete das, dass er einen Termin außerhalb der Stadt wahrnahm oder jemanden feuern wollte. Bei Letzterem wollte er sie nicht im Büro haben, sie hätte sonst nur Mitgefühl mit dem Betroffenen gezeigt, der soeben seinen Job verloren hatte. Tina wusste, dass es sich dabei nicht um Leapman handeln konnte, da Fenston niemals ohne den Mann überleben würde. Und obwohl es ihr gefallen hätte, wenn es Barry Steadman treffen würde, konnte sie davon nur träumen, denn er ließ niemals eine Gelegenheit aus, dem Vorsitzenden um den Bart zu gehen, und Fenston sog Schmeicheleien auf wie ein Naturschwamm, der auf die nächste Welle wartete.
Tina räkelte sich in ihrem Badewasser – ein Luxus, den sie sich normalerweise nur am Wochenende gönnte – und fragte sich, wann sie wohl gefeuert werden würde. Sie war seit über einem Jahr Fenstons persönliche Assistentin und obwohl sie den 39
Mann und alles, wofür er stand, verachtete, hatte sie dennoch versucht, sich unentbehrlich zu machen. Tina wusste, dass sie erst kündigen konnte, wenn …
In ihrem Schlafzimmer klingelte das Telefon, aber sie machte sich nicht die Mühe, den Anruf entgegenzunehmen. Sie ging davon aus, dass es Fenston war, der wissen wollte, wo er eine bestimmte Akte, eine Telefonnummer oder sogar seinen Terminkalender finden konnte. »Vor Ihnen auf dem
Schreibtisch«, lautete für gewöhnlich die Antwort. Tina fragte sich einen Augenblick lang, ob es Anna sein könnte, die einzige echte Freundin, die sie gefunden hatte, seit sie von der Westküste hierher gezogen war. Unwahrscheinlich, schloss sie, da Anna ihren Bericht um acht Uhr präsentieren musste und wahrscheinlich in diesem Augenblick zum zwanzigsten Mal die Einzelheiten durchging.
Tina lächelte, als sie aus der Wanne stieg und ein Badetuch um ihren Körper wickelte. Sie schlenderte durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Wann immer ein Gast eine Nacht in ihrem winzigen Apartment verbrachte, musste er entweder das Bett mit ihr teilen oder auf dem Sofa schlafen. Es gab keine Alternative, da sie nur ein Schlafzimmer besaß. Aber in letzter Zeit hatte sie nicht viele Übernachtungsgäste gehabt und das lag nicht an mangelnden Angeboten. Doch nach dem, was sie mit Fenston durchgemacht hatte, traute Tina niemandem mehr. Vor kurzem hatte sie sich Anna anvertrauen wollen, doch dieses eine Geheimnis durfte sie nicht mit ihr teilen.
Tina zog die Vorhänge auf. Es war zwar September, aber der wolkenlose, strahlende Morgen überzeugte sie davon, ein Sommerkleid zu wählen. Vielleicht würde es sie sogar entspannen, wenn sie zum Bohrer des Zahnarztes aufschaute.
Nachdem sie sich angezogen und ihr Spiegelbild geprüft hatte, ging Tina in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie durfte nicht frühstücken, nicht einmal Toast – auf Anweisung der grässlichen Zahnarzthelferin –, also schaltete Tina das 40
Fernsehgerät ein, um sich das Morgenmagazin anzusehen. Es gab nichts Neues. Einem Selbstmordbomber auf der Westbank folgte eine 160-Kilo-Frau, die McDonalds verklagte, weil die Fastfoodkette ihr Sexualleben ruiniert hatte. Tina wollte Good Morning America gerade abschalten, als der Quarterback der 49ers
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