Die Farbe Der Leere
jemanden, mit dem du reden kannst.« Statt mit mir, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ja, das hat Rob auch gesagt.«
»Rob hat recht.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich kann so was nicht.«
»Es schadet ja wohl nicht, ein paar Telefonnummern zu haben, falls du sie brauchst.«
»Ich muss vorsichtig sein. Niemand darf was merken. Wenn doch, kann ich ihn nicht mehr sehen.«
Ihr gefiel die Richtung nicht, in die das führte. Ein Minderjähriger, der in der Erziehungsgewalt seiner Eltern zu Hause lebte. Es stand ihr nicht zu, sich da einzumischen.
»Denken Sie, ich bin pervers? Oder haben Sie keine Probleme mit mir und Rob?«
Er wusste längst, dass sie ihn nicht für pervers hielt. Also schön, dachte sie, wenn er es noch mal hören muss, sage ich es eben noch mal. Ich erteile dieser Beziehung den Segen einer Gay Pride-Stickerbesitzerin. »Nein, Brian, ich glaube nicht, dass du pervers bist.« Sie zögerte einen Augenblick, dann dachte sie: Wer A sagt … »Hör mal, Brian, muss ich mit dir über Safer Sex reden?«
Sie waren wieder bei ihrem Hauseingang angekommen, und im Schein der Lampe über ihrer Tür sah sie, dass er knallrot wurde.
»M-m, danke, nein. Rob ist bei so was wirklich vorsichtig.«
Gott sei Dank. Sie fühlte sich sehr alt. Wenigstens blieb es ihr erspart, Nachhilfestunden mit Demo-Bananen und Kondomen zu erteilen.
Zu guter Letzt blieb nur noch eins, was sie ihm sagen konnte. »Die meisten Leute, die zu kennen sich lohnt, hatten eine harte Zeit in der Schule. Dann geht man irgendwann raus in die Welt und wird man selbst. Du musst nur noch eine Weile durchhalten. Es kommt schon alles in Ordnung.«
Sie hätte nach dem ersten Satz aufhören sollen. Sie hatte ihre eigene Regel gebrochen: Sie hatte einem Kind versprochen, was nicht zu halten war.
»Im Ernst?«, fragte er. »Hatten Sie auch eine harte Zeit in der Schule?«
»Es war die Hölle«, sagte sie und dachte: Und das ist noch krass untertrieben. »Ich muss jetzt rein, Brian. Pass einfach gut auf dich auf, okay?«
Er blieb auf dem Gehweg stehen und sah zu, wie sie ihre Tür aufschloss. Miss Bennett bellte ihm noch einmal zu und zerrte Katherine dann nach drinnen.
Sie zog ihre Jacke aus und füllte Wasser und Futter in Miss Bennetts Näpfe. Anschließend stellte sie sich an den kleinen Arbeitstresen in der Küche und widmete sich ihrer Post. Öffnete die unvermeidlichen Rechnungen, eine nach der anderen, bis sie zu dem letzten Brief kam, der unfrankierte und, wie sie jetzt bemerkte, auch unverschlossene weiße Umschlag. Das Blatt darin war einmal gefaltet. Als sie es aufklappte und sah, was es war, war ihr erster Gedanke: Nein, das kann nicht für mich sein, mir passieren solche Sachen nicht. Die Botschaft bestand aus einzelnen Buchstaben, die offensichtlich aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten waren.
Noch ehe sie zu lesen begann, empfand sie spontane Erleichterung. Das konnte ja nur ein Witz sein. Oder ein Versehen. Es konnte unmöglich für sie bestimmt sein. Die ungleichen Buchstaben verkündeten: »Ich habe es Ihretwegen getan.«
Ich habe es Ihretwegen getan.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie noch einmal an Botschaften aus dem Jenseits. So sehr vermisse ich Jonathan, dachte sie. Wie ich es bereue, dass ich in den Wochen vor seinem Tod nicht mit ihm geredet habe. Aber Jonathan ist fort … wohin? Vermutlich ins Leichenschauhaus. Und nun war es zu spät. Sie konnte nicht mehr ändern, was geschehen war. Was sie für Seth getan und nicht getan hatte, und später für Jonathan. Sie hatte denselben Fehler erneut gemacht.
Aber diese Botschaft kam natürlich nicht von Seth oder Jonathan. Sie kam von einer verrückten Person, einem Durchgeknallten. Oder einem der dämlichen Kinder aus der Nachbarschaft. Oder Brian schickte ihr eine obskure Nachricht, von der sein lustgetrübter Verstand annahm, sie könnte sie verstehen. Höchstwahrscheinlich bedeutete es jedoch einfach gar nichts. Es war nicht mal für sie bestimmt. Sie erlebte nichts dergleichen. Erlebte eigentlich gar nichts. Andere Leute erlebten etwas, sie nicht.
Vielleicht wäre es aufrichtiger zu sagen, dass sie nichts unternahm. Sie hatte keine Familie. Sie sah sich lediglich an, wie andere aus ihren Familien einen Trümmerhaufen machten.
Sogar ihre Ehe hatte sich irgendwie ohne ihr Zutun abgespielt. Das Apartment, die Partys, die Abendessen. Alles war so glatt gelaufen, Barry hatte wahrscheinlich überhaupt nicht gemerkt, dass sie gar nicht
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