Die Farbe Der Leere
Büro zu tun haben und wolle nicht, dass sie so lange im Gericht auf ihn warten musste. Wobei er stillschweigend davon ausging, dass sie das selbstverständlich getan hätte. Und tatsächlich, das hätte sie. Aber Mendrinos hatte keine Ahnung, dass die Arbeitskultur beim ACS normalerweise nicht die endlosen Überstunden und die ständige Verfügbarkeit voraussetzte, die der Job eines Staatsanwalts mit sich brachte.
»Ist mir ein Vergnügen. Nehmen Sie doch Platz. Ich bestelle Ihnen ein Bier.« Seine Stimme war ruhig und höflich, dabei sehr selbstsicher. An der Grenze zur Arroganz.
Sie hatte schon ewig kein Bier mehr getrunken. Der hefige Geruch, das schummerige Licht und der angeknackste zerkratzte Tisch führten sie fast in Versuchung. Sie schüttelte ablehnend den Kopf und schälte sich aus ihrer Jacke. Dabei verfing sich ihr kurzer Zopf im Kragen, und sie schüttelte wieder den Kopf, um ihn zu befreien. Endlich streifte sie die Jacke ab und ließ sie als Haufen auf den nächsten Stuhl fallen.
Er sah aus, als hätte er eine Rede für sie vorbereitet, aber sie hob die Hand, bevor er zu sprechen begann. »Ich muss Ihnen zunächst etwas sagen. Ich kannte Jonathan Thomson. Ich war bei ACS für seinen Fall zuständig und anschließend ehrenamtlich als seine Mentorin tätig.«
Sie hatte mit Ressentiments und Widerstand gerechnet und sich darauf vorbereitet, ihn zu überzeugen, dass sie trotzdem die Richtige für diesen Auftrag war, aber in seiner Miene lag keinerlei Überraschung. Allerdings mied er ihren Blick, als sei das Thema ein wenig peinlich.
»Ich bedauere Ihren Verlust«, sagte er. »Diane hat mich heute Nachmittag schon angerufen und mir erzählt, dass Sie mit dem jüngsten Opfer befreundet waren. Das muss hart für Sie sein.«
Sie zuckte die Achseln, als wäre das nebensächlich. »Ich habe ihn seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Also wollen Sie nicht jemand anderen anfordern?« Na toll, Katherine, rügte sie sich. Diesen Vorschlag hättest du dir ja wohl besser gespart.
»Nach allem, was ich höre, wird das kaum nötig sein. Diane findet nicht, dass die Umstände gegen Ihre Mitarbeit sprechen. Sie denkt vielmehr, Sie könnten bei den Ermittlungen eine große Hilfe sein. Die Frage ist höchstens, ob Sie glauben, Sie kommen damit klar. Gefühlsmäßig.« Sein Blick heftete sich auf die Tischplatte, als ob das letzte Wort ihn verlegen machte.
»Kein Problem.«
»Gut.« Er ließ die Verschlüsse seines Aktenkoffers aufschnappen, zog eine Akte heraus und legte sie auf den Tisch. »Wir nennen den Täter ›Jack‹.« Sein schiefes Lächeln zeigte, dass das nicht seine Idee war. »Wenn unser Jack alle drei umgebracht hat, und es sieht ganz danach aus, dann gibt es irgendetwas, was die Opfer gemeinsam hatten und was uns zu ihm führen kann. Alle drei haben in der Bronx gelebt, aber die Leichen waren über die südliche Hälfte des Stadtteils verteilt. Keins der Opfer stammte aus derselben Nachbarschaft, es wäre also gut zu wissen, wo sie Jack in die Arme gelaufen sein könnten. Die Ermittlungen haben schon etliche Möglichkeiten eliminiert. Sie gingen nicht auf die gleiche Schule, hatten keine gemeinsamen Freunde, soweit wir das überblicken, sie arbeiteten auch nicht am gleichen Ort. Nehmen Sie Thomson. Sie werden seine Geschichte besser kennen als ich. Seine Mutter starb an …« Er schlug die Akte auf.
»AIDS.«
Er nickte. »Über den Verbleib des Vaters ist nichts bekannt.« Diesmal fiel sein fragender Blick auf sie statt in die Akte.
Sie nickte abwartend.
»Es gibt einen Onkel in New York, der den Vater des Jungen zuletzt gesehen hat, als der vor sieben Jahren ›für ein paar Tage‹ seinen Sohn bei ihm ablieferte. Alle anderen Verwandten leben in South Carolina. Der Junge ist ihnen nie begegnet. Seine Leiche bleibt in Verwahrung, bis wir da unten jemanden erreicht haben.«
Sie nickte wieder.
»Soweit ich gehört habe, war er …«, er zögerte, »ein interessanter Junge.«
Sie fand es aussichtslos, jemandem Jonathan zu erklären, der ihm nie begegnet war. »Ja, das kann man wohl so sagen.«
Mendrinos bemerkte die dunklen Ringe um Katherines Augen, die Art, wie an ihren Handgelenken die Knochen scharf hervortraten. Keine Armbänder, Ohrringe oder Halsketten. Kein Ring. Ihre Hände waren zierlich und ihre Haut so hell, dass er die blauen Linien ihrer Venen an den Innenseiten der Handgelenke sah. »Ich muss Sie warnen. Es handelt sich hier um ungewöhnlich brutale Gewaltverbrechen. Wir
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