Die Farbe Der Leere
berichtet, dass der Junge sich schwertat, zu sprechen, aber schließlich gestand, er sei einmal ins Schlafzimmer seiner Eltern gekommen, als er an einem Asthmaanfall litt. Seine Schwester sei mit seinem Vater im Bett gewesen, während die Mutter auf Nachtschicht war.
Steve war ein guter Befrager, aber Lamar ein nervöser Zeuge. Die Einzelheiten der Situation, die er beschrieb, änderten sich bei jeder erneuten Schilderung. Nach viel gutem Zureden rückte Lamar schließlich mit seiner eigenen Ansicht heraus: Er gab seiner Schwester die Schuld an dem Zwischenfall. Denn schließlich kleidete und benahm sie sich wie eine Hure.
Ohne Lamars Zeugenaussage lief der Fall auf Aussage gegen Aussage von Vater und Tochter hinaus, wobei beide Eltern behaupteten, ihre Tochter sei ein Flittchen. Trotz der Wankelmütigkeit von Lamars Darstellung erachtete Katherine es für notwendig, ihn in den Zeugenstand zu rufen.
Am Morgen der Verhandlung begann Lamar zu keuchen, während er in der Schlange vor dem Metalldetektor anstand. Als er das Stockwerk erreichte, in dem der Gerichtssaal lag, rang er pfeifend nach Luft. Diesmal war es Katherine, die den Krankenwagen rief, und Lamar wurde die Straße runter ins Lincoln Hospital gefahren.
Ein neuer Termin wurde für die Anhörung angesetzt. Dieses Mal weigerte sich Lamar schlicht, auszusagen. Er hockte mit leicht pfeifendem Atem auf der Bank im Warteraum und nahm regelmäßig Züge aus seinem Inhalator. Er habe sich das alles ausgedacht, sagte er. Er habe nie seine Schwester und seinen Vater zusammen im Bett gesehen. Seine Schwester sei ein Flittchen und eine Schlampe. Sie erzählte diese Geschichten aus reiner Bosheit.
Katherine erwog, eine weitere Vertagung zu beantragen und Lamars Asthma als Begründung zu benutzen. Vielleicht konnte Steve herausfinden, weshalb er seine Geschichte geändert hatte. Sie erklärte die Lage Sherry, die Lamar gegenübersaß. Sie hörte Katherine mit ausdrucksloser Miene zu und starrte dann mit kalten, funkelnden Augen ihren Bruder an. Lamar ließ den Kopf hängen.
Die Hicks hatten kein Interesse an Sherrys Rückkehr nach Hause. Sie wollten mit der Hure nichts mehr zu tun haben, sagten sie. Sie hatten einen Sohn, der würde von nun an Träger all ihrer Hoffnungen und Träume sein. Sie wollten Sherry nie mehr auch nur erwähnen.
Steve bat sie, die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sie eines Tages anders denken könnten. Ihre Gefühle mochten sich womöglich ändern, wenn Zeit ins Land ging. Man könnte eine Familienberatung arrangieren. Sie sahen ihn nicht an, schienen ihn nicht zu hören.
Die Sachlage wurde Sherry erklärt. Sie nickte nur kurz. »In Ordnung«, sagte sie. Die Anwälte marschierten in den Gerichtssaal, und in weniger als zwei Minuten war die Familie getrennt. Wieder draußen im Warteraum, wünschte Katherine Sherry viel Glück. Das Mädchen starrte sie an, dann wandte sie sich ab, um sich vom ACS-Fallbetreuer zurück ins Jugendheim bringen zu lassen.
Lamar war während alledem sitzen geblieben, allein. Er hockte reglos da, als seine Schwester ihre Handtasche und ihre Jacke ergriff und ihrem Fallbetreuer folgte. Doch kurz bevor sie in den Fahrstuhl trat, rief er ihren Namen. Sie antwortete nicht und blickte starr geradeaus, bis sich die Fahrstuhltür schloss. Da rannte Lamar zu Steve und warf sich in seine Arme.
Katherine sah zu, wie Steve den Jungen zu trösten versuchte. Als Lamar sich ein bisschen beruhigt zu haben schien, ließ Steve ihn los und kam zu ihr. Lamar hatte bis zu diesem Moment nicht begriffen, dass seine Schwester nicht mehr mit ihm nach Hause kam. Er hatte aus unerfindlichen Gründen geglaubt, die Anklage würde fallen gelassen, wenn er sich auszusagen weigerte, und dann würde Sherry wieder nach Hause kommen, um bei ihrem Bruder und ihren Eltern zu leben. Steve und Katherine sprachen gemeinsam mit ihm. Nein, das hätten ihm nicht seine Eltern eingeredet, beteuerte er. Er hätte es einfach so geglaubt. Es wäre alles ein Fehler. Sherry konnte ihn nicht verlassen. Er konnte dort nicht ohne sie leben.
Steve versuchte noch einmal, es ihm zu erklären. Sherry wollte nicht wieder nach Hause. Und die Eltern wollten sie nicht zurück.
Lamar begann zu weinen, und das Pfeifen seiner Lungen wurde lauter. Mr. Hicks kam aus der Ecke, in der er mit seinem Anwalt und dem Pfarrer gestanden hatte, und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. Lamar stieß ihn mit einer Heftigkeit von sich, die seinen Vater und alle anderen im
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