Die Farbe Der Leere
Und sie wussten nicht, dass ihre Welt enden würde.«
»Und das soll mir helfen, mich besser zu fühlen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich verstehe es immer noch nicht, aber egal. Was macht Susan Sarandon hier?«
»Ihr Gesichtsausdruck auf dem Foto erinnert mich an den Bodhisattva des Mitgefühls, Guanyin. Sie erinnern mich auch an sie. Ihre Arbeit.«
»Wie bitte?«
»Das Leiden ist endlos, ich gelobe es zu beenden. Das ist das, was Sie tun.«
»Endlos. So fühlt sich ein übler Tag in der Fallaufnahme an.«
Hester brachte Katherine zur Tür. »Sie sind hier immer willkommen. Jederzeit.«
»Danke«, sagte Katherine. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder herkommen würde. Aber sie hatte jetzt das Gefühl, zu verstehen, warum Jonathan so oft hier eingekehrt war.
16
Sie erwachte mit einem Ruck, und plötzlich war der Name da, vollständig in ihrem Bewusstsein. Lamar Hicks. Der Nachname des Jungen war Hicks. Für ein paar Sekunden glaubte sie, die Erkenntnis hätte sie geweckt, dann merkte sie, dass das Telefon klingelte. Sie nahm ab, hörte ein Klicken, und niemand war dran. Sie versuchte wieder einzuschlafen, aber die Erinnerung an Lamar Hicks ließ sie nicht mehr los. Jetzt, wo ihr der Name eingefallen war, erinnerte sie sich auch wieder, wie es Familie Hicks ergangen war.
Die Familie Hicks schien eine der normalsten Familien, die je über Katherines Schreibtisch gewandert waren. Mr. und Mrs. Hicks arbeiteten beide in ordentlichen Berufen. Sie kleideten sich korrekt und verhielten sich in der Öffentlichkeit tadellos. Keine Vorstrafen, nicht der kleinste Hinweis auf Drogen oder Alkohol. Jeden Sonntag ging die Familie gemeinsam zur Kirche. Und nicht nur das, ihr Pfarrer erschien als Leumundszeuge vor Gericht.
Ihre vierzehnjährige Tochter Sherry war eine Musterschülerin und erledigte auch den Haushalt für ihre überarbeiteten Eltern. Ihr elfjähriger Bruder Lamar war zart, litt an Asthma und war oft zu krank, um zur Schule zu gehen. Er war durchaus intelligent, aber wegen seiner vielen Fehlzeiten war es schwierig für ihn, mit dem Lernstoff Schritt zu halten.
Die schwere Last der Pflege Lamars lag ganz auf Sherrys Schultern. Sie brachte ihn mit Bus und U-Bahn zu seinen Arztterminen. Sie überwachte seine Medikation. Es war Sherry, die den Krankenwagen rief, wenn Lamar wieder einmal mühsam nach Luft rang.
Die Fassade der Musterfamilie brach an dem Tag zusammen, an dem Sherry ihrem Vertrauenslehrer erzählte, dass ihr Vater sie sexuell belästigte. Der Lehrer rief die staatliche Missbrauchshotline an, die Hotline informierte die ACS-Niederlassung in der Bronx, und der Fall wurde Steve übergeben. Er suchte Sherry in der Schule auf, wo sie ihm berichtete, dass ihr Vater sie mehrfach vergewaltigt hatte, während ihre Mutter als Krankenschwester im Lincoln Hospital auf Nachtschicht war.
Sherry wurde für das schwebende Verfahren in staatliche Obhut genommen. Katherine erarbeitete die Anklageschrift gegen Mr. Hicks wegen sexuellem Missbrauch. Sie erhob auch Anklage gegen Mrs. Hicks, denn Sherry beharrte darauf, dass ihrer Mutter die Misere der Tochter bewusst war und sie nichts unternommen hatte, um dem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Der juristische Terminus hierfür lautete ›Verletzung der Fürsorgepflicht‹.
Der schick gekleidete Pfarrer war nicht die einzige Begleitung, mit der Mr. und Mrs. Hicks bei Gericht erschienen. Sie hatten auch einen selbst engagierten Rechtsanwalt dabei.
Mr. und Mrs. Hicks saßen steif auf der Wartebank und vermieden es peinlichst, ihre Tochter anzusehen. Sherry war eine jüngere Version ihrer Mutter mit den gleichen Gesichtszügen, kräftigem Körper und starken Armen. In einem sittsamen Rock-und-Bluse-Ensemble wartete sie mit ihrem ACS-Fallbetreuer auf der gegenüberliegenden Bank.
Katherine besprach sich in einer Ecke des Warteraums mit dem Anwalt der Hicks. Er erklärte ihr, Mr. und Mrs. Hicks verträten die Position, ihr elterlicher Protest gegen Sherrys Promiskuität mit Jungs ihres Alters habe dazu geführt, dass sie aus Rache diese haltlosen Anschuldigungen erhob. Obwohl sie leise sprachen, kam Mrs. Hicks herübergeeilt, um einzuwerfen: »Ich habe ihr gesagt, ich lasse nicht zu, dass sie sich weiter so schamlos mit Jungs herumtreibt.« Ihr Anwalt legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schulter und geleitete sie zur Bank zurück, wobei er Katherine einen Blick zuwarf, der Geringschätzung signalisierte.
Steve hatte Lamar befragt und
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