Die Farbe der Liebe
gelebt hatte, verunsicherte sie die Vorstellung, unterirdische Räume zu betreten.
Als die Aufzugtüren sich auf der untersten Ebene des Verwaltungsgebäudes surrend öffneten, zuckte Aurelia zusammen. Tristan lachte leise auf.
»Unsere Maîtresse hat doch nicht etwa Angst im Dunkeln?«, neckte er sie. Dass er ihren Titel so scherzhaft gebrauchte, ärgerte Aurelia. Aber sie war ja noch nicht Maîtresse und hatte daher kein Recht, ihm Respektlosigkeit vorzuwerfen. Also lächelte sie nur verkniffen und überlegte sich schon mal, wie sie ihn von seinem hohen Ross herunterholen würde, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Vielleicht sollte sie ihn ja tatsächlich zu ihrem Gefährten erwählen – aber nur unter der Bedingung, dass er ein Halsband trug. Der Gedanke, dass Tristan auf allen vieren vor ihr kauerte und sie ihn mit dem Ledergeschirr und dem Elfenbeinpenis von hinten nehmen würde, wie es ihr Madame Denoux bei P. J. gezeigt hatte, um ihr eine Lektion in Dominanz zu erteilen, erregte sie. Ein brennendes Gefühl zwischen ihren Schulterblättern sagte ihr, dass ihre beiden chinesischen Drachen zum Leben erwachten.
Würde sie je bei Andrei so empfinden? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie hatte bisher keinerlei Neigung zur Unterwürfigkeit bei ihm entdecken können. Dieser Zug ihres Wesens hatte bei ihrem Liebesspiel bisher nie eine Rolle gespielt. Ob sie ihn überhaupt ausleben wollte, war eine andere Frage, auf die sie im Moment selbst keine Antwort wusste. Und vielleicht hatte auch Andrei Sehnsüchte, die sie nicht erfüllen konnte und zu deren Befriedigung er sich immer andere Geliebte suchen würde.
Aurelia wusste nur eines mit völliger Sicherheit – nämlich dass sie gar nichts mehr wusste.
Tristan führte sie durch stockdunkle Flure in den Tiefen der Netzwerk-Zentrale. Aurelia konnte nicht einmal mehr die Umrisse der breiten Schultern von Tristan ausmachen, der ihr voranging. Seine kühle Hand haschte nach ihren Fingern, als sie einmal ins Stolpern geriet. Nach kurzer Zeit hatte Aurelia die Orientierung verloren. Hätte er sie allein gelassen, sie hätte kaum den Weg zurück zum Aufzug gefunden, und ohne seine Schlüsselkarte wäre es ihr wahrscheinlich auch gar nicht möglich gewesen, wieder in die oberen Stockwerke zu gelangen. Türen, die zu Notausgängen führten, hatte sie jedenfalls nicht bemerkt.
Natürlich wusste Tristan ganz genau, was er tat. Zwischen ihnen hatte sich ein unterschwelliger Machtkampf entwickelt, und die Funken, die dabei sprühten, konnten sich allzu leicht zum Flächenbrand ausweiten, wenn sie nur auf den richtigen Brennstoff trafen.
Schließlich blieb er so unvermittelt stehen, dass sie gegen seinen harten Rücken prallte. Als sie seinen warmen, muskulösen Körper unter dem dünnen T-Shirt spürte, flackerte ihr latentes Begehren, gegen das sie ohnehin schon ankämpfte, nur noch stärker auf. Sie wollte sich aber nicht anmerken lassen, welche Wirkung er auf sie hatte. Die Zeichen auf ihrer Haut begannen zu jucken. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihre aufkeimende Lust wäre auf allen nicht bedeckten Körperstellen sichtbar geworden.
Doch was sich ihr enthüllte, als Tristan das Licht anschaltete, wirkte auf ihre Sinne wie eine kalte Dusche.
Sie befanden sich in einem sehr großen Raum. An drei Wänden zogen sich Regale entlang, an der vierten hing eine riesige Leinwand. Es war wie ein Kino ohne Bestuhlung. Die Regale füllten sauber aufgestapelte und beschriftete Kartons, Bücher und Papierstapel.
»Filme?«, fragte Aurelia überrascht, als Tristan auf die einzige Stelle des Archivs zuging, die nicht total zugestaubt war, und mehrere in großen schwarzen Dosen steckende Spulen herausgriff.
»Ja, eine aussterbende Kunst. Und ziemlich retro, gebe ich zu. Aber ich finde, sie hat ihren eigenen Reiz. Digital ist es einfach nicht dasselbe …«, sagte er mit echter Leidenschaft, ganz ohne den ironischen Unterton, der bei ihm sonst ständig mitschwang.
Aurelia zog verwundert eine Augenbraue hoch. Für einen Künstler hätte sie ihn nie gehalten.
»Was ist das hier«, fragte sie und betrachtete die abgesto ßenen, vergilbten Einbände der Bücher. Sie waren so alt, dass man die Titel nicht mehr entziffern konnte, und sie hätte es nicht gewagt, eines herauszuziehen, weil man fürchten musste, dass es zerbröselte.
»Die Geschichte des Balls, teilweise zumindest. Alle Unterlagen, die über die Jahre hinweg aufgetrieben werden konnten.«
»Ich hatte gedacht, es
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