Die Farbe der Liebe
gibt keine. Andrei hat immer gesagt, die Ursprünge des Balls liegen im Dunkel der Zeit …«
»Andrei hält nicht viel von diesem Archiv«, sagte Tristan bitter. »Er hat den Standpunkt, der Ball solle sich weiterentwickeln, moderner werden, mit der Zeit gehen … In der Vergangenheit sieht er nur die Last einer Tradition, die den Zauber stört und die Enthusiasten in der Entfaltung ihrer Fantasie hemmt.«
»Bist du anderer Meinung?«
»Andrei hat nicht ganz unrecht. Unsere Geschichte ist zum großen Teil verloren gegangen, soweit sie überhaupt aufgezeichnet wurde. Und das, was wir haben« – Tristan beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen –, »sind nur Fragmente. Einige dieser Bücher enthalten bloß eine einzige Zeile über den Ball, und manchmal ist noch nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt auf den Ball bezieht oder nicht ein anderes hedonistisches Ereignis meint.«
Er seufzte laut auf. »Seit ich Andreis Stellvertreter bin, habe ich es mir zu Aufgabe gemacht, nach weiterem historischem Material zu forschen, diese Aufzeichnungen hier zu archivieren und für neue zu sorgen. In meiner Verwandtschaft hat es viele Bibliothekare gegeben. Es wird sogar gemunkelt, dass ich von Casanova abstamme, der all seine Abenteuer aufgezeichnet hat … es liegt mir anscheinend im Blut. Er hatte einen Sohn, der vieles aufgespürt hat, das man verloren glaubte.«
Aurelia ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. So so, er hielt sich also für einen Nachfahren Casanovas. Welche Überheblichkeit! Doch das war rasch vergessen, denn plötzlich wurde ihr etwas klar.
»Du hast mich während der Ausbildung gefilmt.«
»Ja«, gestand er. »Nicht immer, aber bei einem großen Teil. Wir wollten herausfinden, wie die Tattoos erscheinen. Vor allem wann. Ob sich die Zeichen der Maîtresse in Zusammenhang mit den Aufgaben entwickeln, die sie während ihrer Ausbildung lösen muss. Ob sich diese Energie irgendwie einfangen lässt … Manche beim Ball glauben, dass eine Maîtresse erschaffen und erzogen werden kann, nicht gezüchtet im eigentlichen Sinn, aber irgendwie geformt … Und du bist so schön, Aurelia, so schön und manchmal so schrecklich, wenn du fickst oder gefickt wirst. Du hast ja gar keine Ahnung. Ich habe nie zu deinen Liebhabern gehört. Ich war immer wie eine Spinne in deinem Netz gefangen, so fasziniert von dem, was ich im Sucher sah, dass ich es nicht über mich brachte, die Kamera auch einmal fortzulegen und mich zu beteiligen. Du brennst so hell, in deiner Gegenwart komme ich mir vor wie unter der sengenden Sonne. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste zu Asche verbrennen, wenn ich dir in die Augen sehe. Wähle mich zu deinem Gefährten, Aurelia, und ich werde dein Helios sein: Wenn sich deine Macht und mein Wissen vereinen, dann können wir über den Ball herrschen, wie das noch niemand vor uns getan hat …«
Er legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr. »Aber wir sind nicht hier, um über die Zukunft zu reden. Ich habe dich hergebracht, um dir die Vergangenheit zu zeigen. Schau.«
Der Projektor erwachte ratternd zum Leben, und flimmernde Bilder erschienen auf der Leinwand. Andrei war darauf zu sehen, halb nackt und groß wie ein Titan. Er füllte die ganze Leinwand aus. Vor ihm kniete eine schöne junge Frau mit dunklen, sorgfältig hinter die Ohren gekämmten und zu einem Bob geschnittenen Haaren. Sie hatte volle rote Lippen und hohe Wangenknochen, auf die jede Katze neidisch gewesen wäre. Ihr kurzer Jeansrock war ihr über die Hüfte gerutscht, und man sah noch die Druckstellen des hastig heruntergezogenen weißen Schlüpfers auf ihrer weichen, braunen Haut. Andreis Schwanz stieß in einem hastigen, fast schon unregelmäßigen Rhythmus in sie hinein, an dem Aurelia seine Leidenschaft erkannte. Das war kein Ritual, keine Pflichtübung. Das war Ficken in seiner reinsten Form.
Aurelias Blick blieb an dem Kirschen-Tattoo hängen, das die Frau direkt über ihrem Schambein hatte. Im ersten Augenblick bekam sie einen Schreck, doch dann erkannte sie, dass es eine echte Tätowierung war, nicht einmal eine geschmackvolle, wie sie nicht ganz ohne Bitterkeit dachte.
Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Bewegung im Hintergrund gefesselt. Lichter. Bunte Fähnchen. Ein Vorhang aus bunten Glasperlen, der vor dem Zelt einer Wahrsagerin im Wind schwang. Der Rummelplatz von Hampstead Heath. Es war noch hell, aber am Himmel zogen bereits Wolken auf, und der Wind wurde stärker. Sie selbst und Siv waren
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