Die Farbe der Liebe
ihrem normalen Tagesablauf zurück, zu dem Schule, Tanz- und Theaterkurse gehörten. Aurelia hatte weiterhin ihren Job im Blumenladen in Old Leigh, und Siv stand samstagsmorgens im Einkaufszentrum hinter der Kasse und verkaufte Spielkarten und Furzkissen. Die Sonntage waren dazu da, das verdiente Geld auf den Kopf zu hauen und sich mit Freunden zu treffen. So ging das Leben einige Monate lang seinen gewohnten Gang. Prüfungen kamen und wurden ordnungsgemäß abgehakt. Und nun stand bald für beide eine Entscheidung an.
Am Wochenende nach den Prüfungen betranken sich Siv und Aurelia hemmungslos bei einem Kneipenbummel mit Schulfreunden und -freundinnen, auf den sie sich unvorsichtigerweise einließen. Weil Siv sie unablässig bedrängte, sich endlich einen richtigen Freund zu suchen, flirtete Aurelia heftig mit einem gut aussehenden, aber ziemlich hohlen Studenten. Von nun an verblasste die Erinnerung an den Kuss des Fremden rasch. Nach einigem ungeschickten Gefummel hatte Aurelia eingewilligt, sich mit dem Jungen auf dem Parkplatz zu treffen; doch der unglückselige Kevin stolperte, als sie mit ihm Hand in Hand ging, und brach sich das Handgelenk, was der weiteren Entwicklung des Abenteuers ein jähes Ende setzte. Aurelia hatte wieder einmal das Gefühl, ihr Liebesleben stünde unter einem Fluch. Vielleicht habe sie aber ganz im Gegenteil einen Schutzengel, grübelte sie einige Tage später, als sie im Bett lag und ihren Träumen nachhing. Doch sie verwarf diesen Gedanken sofort, trotz des seltsamen Gefühls, beobachtet zu werden, das sie schon seit einiger Zeit hatte; wenn sie sich jedoch umschaute, konnte sie niemanden entdecken.
Und dann kam der Brief.
Es war ein dicker, brauner Umschlag, der ausgesprochen offiziell aussah und mit den üblichen Rechnungen, ein paar Zeitschriften und Werbebroschüren schwer auf die Fußmatte unter dem Briefschlitz der Tür geplumpst war.
Aurelia stand gerade oben im Bad und putzte sich die Zähne. Sie hörte, dass Laura sich im Hausflur wie üblich seufzend nach der Post bückte. Ihre Pflegemutter litt unter Gelenkarthritis, und man hörte sie oft stöhnen und darüber klagen, dass ihr Körper ihr alltägliche Verrichtungen zur Qual mache. Sie war gut zehn Jahre älter als ihr Ehemann John. Aurelia bewunderte immer, dass zwei offenbar so verschiedene Menschen so lange so gut miteinander auskamen. John war ein nüchterner Mann, ein Mathematiklehrer, der mit beiden Beinen im Leben stand, während Laura eine Künstlernatur war. Die zarten, vogelähnlichen Gebilde, die sie aus Glas blies, standen in denkbar größtem Kontrast zu den Rechenspielchen ihres Mannes. Sie hatten sich zwanzig Jahre zuvor in der U-Bahn kennengelernt. Laura hatte eines ihrer Werke zu einer Ausstellung bringen wollen, aber es war ihr aus der Hand gerutscht und vor seinen Füßen in tausend rote Scherben zersprungen. Ihre Hände hatten sich berührt, als sie sich hinkniete und John ihr helfen wollte, die Bruchstücke aufzusammeln. Der Rest sei Geschichte, sagten sie oft, und trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere seien sie noch immer so verliebt wie in ihrem ersten Jahr.
Papier raschelte, dann rief Laura: »Aurelia, mein Schatz, Post für dich!«
Sie spülte sich den Mund aus und rief ihrer Pflegemutter zu, sie komme gleich. Bestimmt war es nichts Wichtiges, denn Aurelia konnte sich nicht erinnern, irgendwann einmal etwas Besonderes per Post bekommen zu haben. Mit Siv und ihren sonstigen Freunden und Freundinnen schrieb sie sich ausschließlich Mails und SMS , und außer Geburtstagsgrüßen verschickte sie nie etwas mit der Post. Rasch ging sie in ihr Zimmer, streifte eine Jeans über und eilte die Treppe hinunter.
Laura war schon wieder in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Das leise Brodeln der Kaffeemaschine wurde vom stetigen Rhythmus des Holzlöffels untermalt, der im Topf rührte, damit der Haferbrei nicht anbrannte. Weiches Licht fiel durch die großen Erkerfenster und ließ die Marmeladen- und Einmachgläser auf den hölzernen Regalbrettern neben der Speisekammer aufleuchten. John, ihr Pflegevater, lag noch oben im Bett und las, wie er es am Wochenende gern tat.
Der Brief lehnte auf dem Küchentisch an einem großen Krug mit holländischen Tulpen. Ihre blassrosa Blüten öffneten sich gerade mit überraschender Geschwindigkeit und verliehen dem Wintermorgen einen Hauch von Frühling.
Aurelia warf einen Blick auf den Umschlag. Tatsächlich, da stand ihr Name in unscheinbaren
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