Die Farbe der Liebe
Druckbuchstaben auf einem rechteckigen Aufkleber.
Doch statt ihn an Ort und Stelle aufzureißen, nahm sie ihn mit in ihr Zimmer, um ihn dort in Ruhe zu lesen. Nachdem sie sich im Schneidersitz auf ihrem Bett niedergelassen hatte, schlitzte sie den braunen Umschlag vorsichtig mit ihrer Pinzette auf.
Es war ein Schreiben von einem Anwalt, der sie bat, so schnell wie möglich einen Termin in seiner Kanzlei auszumachen. Aurelia hielt das zunächst für einen Irrtum und schaute noch einmal auf den Umschlag. Nein, da standen ihr Name und ihre Adresse. Nachdem sie den kurzen Brief ein zweites Mal gelesen hatte, wunderte sie sich vor allem darüber, dass der Anwalt sie aufforderte, allein, also ohne Begleitung, zu kommen. Das Schreiben enthielt dafür weder eine Erklärung noch einen Grund.
Sie googelte den Namen der Kanzlei. Es war offenbar eine seriöse Adresse. Die Webseite listete zahlreiche Partner und assoziierte Anwälte mit einer beeindruckenden Anzahl von Titeln und Kürzeln auf.
Ohne dass sie hätte erklären können, warum, verzichtete Aurelia darauf, John und Laura vom Inhalt des Briefs zu erzählen. Als sich ihre Pflegemutter später danach erkundigte, behauptete Aurelia, es wäre bloß eine Werbung gewesen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, worum es gehen könnte«, sagte sie zu Siv, als sie sich kurz darauf in ihrem Lieblings-Strandcafé trafen. Harry war mit dem Jahrmarkt in den Midlands unterwegs und nicht übers Wochenende zu ihnen ans Meer gekommen, wie er es sonst oft tat. »Warum rufst du nicht einfach an und fragst, was sie wollen?«, schlug Siv vor.
»Es ist Samstag, da ist das Büro garantiert nicht besetzt«, wandte Aurelia ein.
»Probier es doch einfach.«
Doch wie erwartet hob niemand ab.
Während des Wochenendes versuchte Aurelia, nicht an die rätselhafte Aufforderung zu denken. Sie sahen sich im Cineworld den neuesten Film mit Michael Fassbender an, der Siv jedoch enttäuschte, weil ihr Lieblingsschauspieler während des ganzen Films angezogen blieb. Trotz aller Ablenkungsversuche ging Aurelia der Brief nicht aus dem Kopf.
Am Montag eilte sie in der Mittagspause zum Sportplatz, wo sie ungestört war, und rief die Kanzlei in London an. Allerdings konnte sie den Anwalt, der den Brief unterzeichnet hatte, nicht persönlich sprechen, sondern erfuhr nur von seiner Sekretärin, dass sie frühestmöglich am Dienstag der darauffolgenden Woche einen Termin bekommen könne. Worum es eigentlich ging, durfte sie nicht verraten. Aurelia sagte gleich zu, auch wenn das bedeutete, dass sie einen Tag die Schule schwänzen müsste.
Die folgende Woche zog sich endlos hin, sosehr sich Aurelia auch bemühte, den Gedanken an die Fahrt nach London aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf das Lernen für die im nächsten Monat anstehenden Prüfungen zu konzentrieren. Sie hatte gute Aussichten, und schon jetzt hatten ihr einige angesehene Universitäten bei einem entsprechenden Abschluss einen Studienplatz versprochen. Allerdings erfüllte sie die Aussicht auf ein Studium nicht gerade mit Begeisterung. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, dachte sie oft darüber nach, woran das lag. Offenbar fehlte es ihr im Unterschied zu den meisten ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen am nötigen Ehrgeiz. Selbst die Aussicht, von zu Hause wegzuziehen und ein unabhängiges Leben zu führen, reizte sie nicht sonderlich.
Wenn sie nicht gerade mit bittersüßer Sehnsucht an den berauschenden Kuss und die zahllosen Gerüche und Farben dachte, die er in ihr geweckt hatte, wanderten ihre Gedanken nach Amerika. Dort war sie zur Welt gekommen. Auch wenn sie nicht unbedingt den Wunsch verspürte, die schützende Obhut ihrer Pflegeltern zu verlassen, die eine ziemlich lockere Einstellung hatten und ihr alle Freiheit ließen, sehnte sie sich nach etwas Neuem. Oft hatte Aurelia das Gefühl, in England nicht richtig heimisch zu sein.
Aber immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Fremden auf dem Jahrmarkt zurück, und wie sich seine Lippen auf ihren angefühlt hatten. Dann ließ sie sich in die Kissen sinken, strich sich mit den Fingerspitzen erst über den Mund und dann über die Knospe ihrer Klitoris und gab sich der Vorstellung hin, dass die Hand, die ihr diese Lust bereitete, nicht ihre eigene sei. Tief in ihrem Herzen hatte Aurelia die Ahnung, dass sie den Fremden wiedersehen würde. Aber wie sollte er sie finden, wenn sie ans andere Ende der Welt umzog?
»Was trägt man zu einem Termin beim Rechtsanwalt?«, fragte sie
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