Die Farbe der Liebe
Getümmel.
Nun konnte Aurelia sich ungestört umschauen. Sie klemmte sich das Weidenkörbchen unter den Arm und stieß die Tür zum Hauptraum auf, wo sie auf weitere Gestalten aus den Märchenbüchern ihrer Kindheit stieß.
Es war ein richtiger Saal, die Decke bestimmt doppelt so hoch wie in einem normalen Haus. Das Ganze gliederte sich in zwei Bereiche. Vorne hatte wahrscheinlich die Gemeinde gesessen, die zum Gottesdienst zusammengekommen war, und hinten, im erhöhten kleineren Teil, musste die Kanzel gestanden haben. Jetzt lagen dort bunte Läufer, es gab Bücherregale und ein Klavier.
Dort hatte sich in einer Ecke auf einem blauen Hocker eine rothaarige Meerjungfrau niedergelassen und ihre Beine nach vorn ausgestreckt. Sie steckten in einer engen, paillettenbesetzten Hülle, die glitzerte, wenn das Licht darauf fiel. Ihr Kopf lehnte an einer großen goldenen Harfe. Die Verkleidung war so gut, dass Aurelia erst auf den zweiten Blick auffiel, dass sie von der Taille aufwärts gänzlich nackt war. Ihre großen, schweren Brüste waren mit silbrigem Puder bestäubt, sodass ihre Haut passend zu ihrem Schwanz wie Fischschuppen schimmerte.
Aus einer Stereoanlage in der Nische, wo sicher früher das Harmonium gestanden hatte, dröhnte »King of the World« von First Aid Kit; und drei junge Männer tanzten in der Saalmitte leichtfüßig zu dem munteren Folk. Sie bewegten sich so flink und geschmeidig, dass nicht ihre Bewegungen, sondern das rhythmische Klappern verriet, dass sie Hufe an den Füßen trugen. Außerdem hatten sie auf dem Kopf auffällig große und dicke gewundene Hörner, die so gar nicht zu ihren feinen Gesichtszügen passten. Im Dämmerlicht hätte man sie wirklich für Faune halten können und nicht für kostümierte Männer. Aurelia kam näher, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.
Plötzlich flackerte eine Kerze, und ein dunkler Schatten huschte über die Wand neben ihr. Aurelia machte einen Satz, ehe ihr klar wurde, dass es ihr eigener war. Sie lachte und schüttelte den Kopf über ihre blühende Fantasie. Natürlich waren die Tänzer nichts weiter als kostümierte Gäste. Schließlich war das hier die Wirklichkeit und kein Märchen. Dann jedoch stockte ihr der Atem, denn sie sah, dass die drei Männer bis auf ihre Hörner, Hufe und umgeschnallten Schwänze völlig nackt waren. Und es überraschte sie, wie normal ihre schlaffen Penisse wirkten. Sie waren nichts weiter als ein unbedeutendes Stück baumelndes Fleisch, das sich im Einklang mit dem übrigen Körper bewegte.
Siv und P. J. traten zu ihr, jeder einen großen Kelch in der Hand, in dem eine tiefrote Flüssigkeit schimmerte. Siv hatte Aurelia ebenfalls ein Glas mitgebracht. Die schnupperte misstrauisch daran. Das Getränk roch wie die Blumen in ihrem Korb und nicht wie etwas, das sie bisher als trinkbar erachtet hätte.
»Es ist irgendein Sirupgemisch«, sagte Siv. »Aus Rosenblättern und Sternanis.« Theatralisch legte sie den Kopf nach hinten und nahm einen großen Schluck aus ihrem Kelch, dann streckte sie die Zunge heraus wie zum Beweis, dass es kein Gift war. »Ist das nicht toll hier?«, fragte sie und zeigte auf die nackten Tänzer. »Wie auf dem Jahrmarkt, nur besser. Wir zeigen später auch ein paar Tricks«, setzte sie hinzu, legte P. J. den Arm um die Schulter und drückte ihn an sich.
»Wo ist Ginger?«, fragte Aurelia.
»Er checkt die Trapeze«, antwortete Siv.
Aurelia sah zur Decke hoch, und ihr entfuhr ein anerkennender Pfiff. Dicke Seile schlängelten sich über Balken hinweg und unter ihnen hindurch, fanden zu Hängepunkten zusammen und bildeten ein kompliziertes Netz.
»Es ist schrecklich weit oben.« Aurelia zog besorgt die Brauen zusammen.
»P. J. kommt mit hoch. Er ist ein echter Profi. Also nur die Ruhe.«
»Stimmt«, bestätigte P. J. »Ich fühle mich in der Luft sicherer als auf dem Boden.«
»Ist P. die Abkürzung für Peter?«, fragte ihn Aurelia.
»Nein. Für Persephone. Ich heiße Persephone John. Aber weil Percy eher nach einem Ferkel klingt, nennen mich alle einfach P. J.«
»P. J. hat die Zirkusschule in San Francisco besucht«, erklärte Siv. »Er will mir helfen, meine Nummer für die Aufnahmeprüfung vorzubereiten.«
Skeptisch musterte Aurelia ihre Freundin. Zwar hatte Siv inzwischen den Arm von P. J.s Schulter genommen, ansonsten aber flirtete sie ganz unverhohlen mit ihm. Ihr Iro, den sie stundenlang mühevoll mit Gel geformt hatte, war bereits völlig außer Fasson. Die wild abstehenden
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