Die Farbe der Liebe
Haarbüschel verrieten, dass sie sich häufig geistesabwesend durchs Haar gefahren war, wie sie es immer tat, wenn sie sich für einen Mann interessierte.
Stundenlang hatten Siv und Aurelia darüber gesprochen, was sie mit Ginger machen sollten, denn er wollte nicht mit ihnen nach Amerika kommen. Als er Siv gestanden hatte, dass er Flugangst habe, war sie tödlich beleidigt gewesen und hatte gemeint, wenn er sie wirklich liebe, werde er sich etwas einfallen lassen, und wenn er durch den Ozean schwimmen müsse. Vielleicht war Siv jetzt schlichtweg sauer auf ihn, oder die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Gefühle für Ginger offenbar abgelegt hatte, zeigte wieder einmal ihre außerordentlich pragmatische Veranlagung. Denn Siv war ein geradliniger Mensch und völlig unbeleckt von romantischen Anwandlungen. Sie arrangierte sich einfach mit den Gegebenheiten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie schön es vielleicht anders gewesen wäre.
»Wir müssen uns ein Plätzchen suchen, wo wir üben können«, sagte Siv und nahm P. J. an die Hand. Zusammen hüpften sie über den Steinboden zur Treppe und verschwanden aus Aurelias Sicht.
Sie trank einen kleinen Schluck. Es schmeckte süß und holzig, ein bisschen wie Granatapfel. Sie nahm noch einen Schluck; und je länger sie den Sirup im Mund kreisen ließ, desto intensiver entfaltete sich der Geschmack auf ihrer Zunge. Im Handumdrehen hatte sie alles ausgetrunken und verspürte das heftige Verlangen nach mehr.
Mit dem Glas in der Hand wollte sie sich quer durch den Saal auf den Weg in die Küche machen, um sich nachzuschenken. Die Musik hatte jedoch an Fahrt aufgenommen, und die Gäste, die sich vorher noch auf den vielen Kissen gefläzt hatten, tanzten jetzt zusammen mit den drei Faunen zu einem hämmernden, immer schneller werdenden Rhythmus. Zwischen all den umherwirbelnden Menschen fühlte Aurelia sich eher wie inmitten eines Sturms als auf einer Party.
Sogar die Meerjungfrau sah nicht mehr melancholisch aus und hatte die Harfe stehen lassen, um mitzutanzen. Aber unglaublich, sie tanzte auf den Händen und streckte die Beine, die noch immer in die enge Hülle gezwängt waren, in die Luft. Während sie sich wie eine züngelnde Flamme hin und her bewegte, schleifte ihr leuchtend rotes Haar über den kalten, grauen Steinboden der Kapelle.
Da entdeckte Aurelia aus dem Augenwinkel wieder einen im Kerzenlicht huschenden Schatten – der einzige Gast außer ihr, der nicht tanzte.
Dann trat er ins Licht.
»In dem Anzug ist es zu heiß zum Tanzen«, erklärte der Wolf, der eine Karaffe mit dem roten Getränk in der Hand hielt.
»Darf ich?«, fragte Aurelia mit schon ganz trockener Kehle.
»Aber sicher, gern.«
Er füllte ihr Glas bis zum Rand. Aurelia legte den Kopf in den Nacken und trank alles auf einmal. Wieder verspürte sie großen Durst, und wieder füllte er ihr das Glas.
»Das habe ich gemixt«, sagte er. »Nach einem Rezept meiner Mutter. Freut mich, dass es dir schmeckt.«
»O ja. Wirklich köstlich.«
Sie leckte sich die Lippen. Inzwischen war die Musik wieder langsamer geworden, und die Tänzer wirbelten nicht mehr umher, sondern wiegten sich zum sanften, aber gleichmäßigen Rhythmus des Songs »Hoof and Horn«. Das keltische Lied dröhnte so laut aus den Lautsprechern, dass das Wummern aus dem Fußboden zu kommen schien und den Tänzern in die nun zuckenden Beine ging.
»Zieh die Schuhe aus, dann spürst du mehr!«, rief ein Mädchen in weißer Bluse und glockenblumenblauem Tellerrock. Sie hielt einen Hirtenstab in der Hand. Lachend fasste sie Aurelia um die Taille und wirbelte sie so heftig herum, dass ihr roter Umhang flatterte, als wäre er ein Laken im Wind.
Wie alle anderen Gäste war auch dieses Mädchen barfuß. Natürlich war es eine Frage der Höflichkeit und durchaus üblich, die Schuhe auszuziehen, wenn man als Gast ein fremdes Haus betrat. Auf den Partys jedoch, auf denen sie bisher gewesen war, hatten fast alle Mädchen – insbesondere die etwas kleineren und dicklichen – ihre Highheels anbehalten. Da Aurelia sich zu groß fand und nicht unnötig auffallen wollte, trug sie meist Ballerinas. Doch beim Anblick der vielen barfüßigen Leute im Raum, von denen die Hälfte zumindest teilweise nackt war, kam Aurelia sich gar nicht wie auf einer Party vor, sondern vielmehr, als wäre sie mit Nymphen und anderen nur halb menschlichen Geschöpfen irgendwo im tiefen Wald.
»Wer bist du?«, fragte Aurelia atemlos, als sie Schuhe
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