Die Farbe der Liebe
noch das Zeichen auf deiner Haut.«
Bald darauf fegte die Revolution über das Land hinweg. Und weder auf französischem Boden noch sonst irgendwo im kriegsgebeutelten Europa sollte über viele Jahrzehnte hinweg ein Ball stattfinden.
3 EIN BLUTIGER NADELSTICH
»Ist das eine Kirche?«, fragte Aurelia, als sie mit Siv auf die schwere Holztür zuging, wo Ginger bereits an der Schnur einer altmodischen Glocke zog. Bis auf die Straße hörte man dröhnendes Lachen und laute Musik, ein merkwürdiger Gegensatz zu dem hellen Messingklang.
Die Tür schwang auf. »Eine umgebaute Kapelle«, antwortete Ginger. »Cool, was?«
»Willkommen! Tolle Kostüme … genau das, was uns gefehlt hat«, sagte der Mann, der sie begrüßte. Er war kleiner als Ginger, aber seine überschwänglichen Gesten waren so raumgreifend, dass er größer wirkte, als er war. Seine Haarspitzen waren leuchtend purpurrot gefärbt, mehr von seinem Schopf war wegen der Spitzenhaube auf seinem Kopf nicht zu sehen. Über einem Strandkleid trug er eine Rüschenschürze, dazu schwang er einen Kochlöffel wie einen Zauberstab.
»Nur herein, herein«, sagte er zu Aurelia und lächelte sie strahlend an. »Ich bin die Großmutter, und das da ist der Wolf.« Dabei zeigte er auf den jungen Mann neben sich, der in einem lustigen braunen Filzstrampelanzug mit großem weißen Fleck auf dem Bauch steckte. Unter seiner mit hängenden Filzohren und Reißzähnen aufgemotzten Kapuze lugten einige dunkelbraune Haarbüschel hervor.
Als der Wolf Aurelia anlächelte, entblößte er Vorderzähne, die etwas länger waren als die übrigen, was vor allem deshalb ins Auge fiel, weil die Kapuze sein Gesicht fast ganz verdeckte. So wirkte er trotz des simplen Kostüms fast ein bisschen gefährlich.
»Wow«, sagte Siv. »Warum hast du denn so große Zähne?«
»Damit ich dich besser anlächeln kann«, erwiderte der Wolf und grinste noch breiter.
Aurelia überlief eine Gänsehaut. In der Kapelle war es kühl, und sie hatte bei ihrem Kostüm ausschließlich an die Wirkung gedacht: Zu einer dünnen weißen Spitzenbluse mit passendem Rock trug sie einen leichten roten Baumwollumhang, den sie zwar am Hals mit einer Spange geschlossen hatte, der aber die Arme frei ließ, wenn sie ihn nicht ganz eng um sich zog. Und selbst dann war der Stoff zu dünn, um sie zu wärmen. Jetzt bedauerte sie, Sivs Rat ignoriert und keine Strumpfhose angezogen zu haben. Sobald die Party in vollem Gange sei, würde es sowieso niemanden mehr kümmern, ob man perfekt kostümiert sei, hatte Siv gesagt. Aber Aurelia hatte schon immer sehr auf Details geachtet, und so trug sie nur weiße Söckchen zu den blassrosa Ballerinas.
Im Vergleich zu ihr war Siv allerdings halb nackt in ihrem Outfit aus zerrissenen braunen Leggings und einem schwarzen BH unter einer Jeansweste, die sie sich von Ginger geborgt und dann trotz seiner Proteste künstlich verschlissen hatte. Doch obwohl ihre Arme, ihre Schenkel und der Oberkörper schutzlos der Kälte preisgegeben waren, sah man nirgends das kleinste bisschen Gänsehaut. Siv hätte auch gut einen Miniaturrambo mimen können statt einen der verlorenen Jungs.
»Was hast du da in deinem Korb?«, fragte der Wolf.
»Blumen«, antwortete Aurelia und klappte den Deckel vom Picknickkorb ihrer Tante auf. Die Rosen und Tulpen darin hatte sie vormittags auf dem Markt gekauft.
Der Wolf neigte den Kopf und schnüffelte. »Himmlisch«, sagte er.
Zwar waren die Blüten mittlerweile ein bisschen zerdrückt, doch das verstärkte nur ihren betörenden Duft. Als er Aurelia in die Nase stieg, meinte sie, ihren eigenen kleinen Garten mit sich herumzutragen.
»Sehe ich da einen weiteren verlorenen Jungen?«, ertönte eine Stimme von der Treppe hinter ihnen, wo ein junger Mann kopfüber mit den Knien am Geländer hing. Er trug Kleidung in den verschiedensten Grüntönen und einen Hut mit Glöckchen, das bimmelte, als er sich einmal ums Geländer schwang und dann mit einem leisen, dumpfen Plopp auf dem Boden aufkam. Er war barfuß, und seine Finger- und Fußnägel waren limonengrün lackiert, eine Farbe, die auch Siv sehr mochte.
»Ich bin P. J.«, stellte er sich vor und hatte dabei nur Augen für Siv.
»Und ich bin die Kleine«, erwiderte Siv. Es war Gingers Kosename für sie.
»Ich hole uns was zu trinken«, mischte sich Ginger ein und drängte sich an Peter Pan und dem Wolf vorbei, um die Küche zu suchen. Siv und das Grüppchen, das sie am Eingang begrüßt hatte, folgten ihm ins
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