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Die Farbe der Liebe

Die Farbe der Liebe

Titel: Die Farbe der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vina Jackson
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die hängende Frau keines Blicks, dennoch hatte Aurelia den Eindruck, dass er sie irgendwie analysierte. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf schien er sie eher durch Hören als durch Sehen wahrzunehmen und formte dabei mit den Händen geschickt eine Tonfigur.
    Sie vermutete in ihm sogleich den Mann, für den Siv so schwärmte.
    Das musste Walter sein.
    Aurelia spähte zu ihm hinüber. Er hatte schlohweißes Stoppelhaar, und sein Outfit war ziemlich schräg. Zu einer hellen Hanfhose trug er ein langärmeliges, kragenloses violettes Hemd aus dem gleichen dicken, rauen Stoff. Vielleicht war es für ihn wichtig, Dinge zu spüren, da er sie ja nicht sehen konnte. Das mochte auch erklären, warum er sich ausgerechnet fürs Modellieren entschieden hatte.
    Aurelia fand sein Aussehen nicht weiter bemerkenswert. Das eckige Kinn und die hohen Wangenknochen gaben ihm etwas Raubtierhaftes, was durch die Art, wie er sich bewegte und auf Berührungen und Geräusche reagierte, unterstrichen wurde. Seine locker fallende Kleidung ließ nicht erkennen, ob er muskulös war, doch die schlanke Figur und der gerade Rücken ließen ihn sportlich erscheinen.
    Dennoch wirkte er auf Aurelia einfach wie ein alter Mann. Nicht abstoßend, ganz und gar nicht, aber doch in einer Altersgruppe, die für sie absolut nicht infrage kam. Mit seinen über sechzig Jahren war er mindestens vierzig Jahre älter als Siv. Empfand sie für ihn wirklich das Gleiche wie für den seit Langem abservierten Ginger?
    Sie drehte sich um und musterte Siv, die breitbeinig dastand, Hände in den Hosentaschen, die Daumen in den Gürtellaschen der Shorts. Sie starrte Walter fasziniert an. Doch als Aurelia ihrem Blick genauer folgte, sah sie, dass Siv nicht von den Gesichtszügen des Mannes gefesselt war, sondern von den Bewegungen seiner Hände, die gekonnt den Ton formten. Aurelia trat einen Schritt auf ihre Freundin zu und zwickte sie in den Arm, doch Siv schien wie weggetreten und nahm nichts um sich herum wahr, weder Aurelia noch das Zimmer oder die von der Decke hängende Frau. Für einen Augenblick schien sie ebenso blind zu sein wie Walter.
    »Siv!«, flüsterte Aurelia. Doch Siv reagierte nicht. Aurelia wedelte ihr mit der Hand vor den Augen. Endlich gelang es ihr, Sivs Blick von den Bildhauerhänden zu lösen.
    »Was ist?«, flüsterte sie zurück.
    Der Mann drehte sich nicht um, als er ihre Stimmen hörte, Höchstwahrscheinlich hatte er ihre Anwesenheit die ganze Zeit gespürt.
    »Lass uns gehen«, sagte sie. Ihr sträubten sich die Nackenhaare, als sie sah, wie Siv auf den Bildhauer reagierte. Noch nie hatte sie ihre forsche, vernünftige Freundin so erlebt. Sie war besorgt.
    Siv trat von einem Bein auf das andere, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen.
    »Wenn wir hierbleiben, lenken wir ihn bloß ab«, versuchte Aurelia es anders. Das erzielte die gewünschte Wirkung. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf den Bildhauer ging Siv widerstrebend in Richtung Tür.
    Aurelia beobachtete ihre langsamen, schwerfälligen Schritte. Es schien, als wäre ihre Freundin durch unsichtbare Fäden an Walter gebunden und als kostete es sie große Überwindung, ihn zurückzulassen. Und Aurelia spürte dieses seltsame Jucken, das sie manchmal überkam, wenn sie im Fernsehen einen Horrorfilm sah und am liebsten einen Warnschrei ausstoßen würde, weil die Heldin eine quietschende Tür öffnete oder eine morsche Kellertreppe hinunterging.
    Warum beunruhigte sie Sivs Interesse an diesem Bildhauer so sehr? Aurelia hatte noch keines seiner fertigen Werke gesehen. Aber ob sie nun gut waren oder nicht, allein schon die Tatsache, dass er als Blinder Kunstobjekte schuf, war bemerkenswert. Ansonsten aber fand sie ihn ziemlich normal und wenig beängstigend. Es war Sivs Reaktion auf ihn, die sie erschreckte. Sie konnte nicht sagen, was, aber irgendetwas an ihrer Freun din war anders. Die Gedanken an diesen Mann schienen sie regelrecht aufzufressen.
    Da geht es ihr nicht anders als mir, überlegte Aurelia mit bitterem Lächeln. Wahrscheinlich war es nur eine vorübergehende Schwärmerei oder Bewunderung für sein ungewöhnliches Talent. Siv würde schon wieder normal werden.
    »Wow«, sagte Siv, die weiter vorn im Gang abrupt stehen geblieben war. Aurelia hastete ihr hinterher, um zu sehen, was jetzt schon wieder Sivs Aufmerksamkeit gefunden hatte. Inzwischen waren etliche der vorher verschlossenen Türen geöffnet, und was hinter einer der ersten zu sehen war, schockierte

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