Die Farbe der Liebe
Minute.
Sie betrachtete die exotisch gekleidete Schar, die zwischen den Bäumen hindurchlief. Als sie nach oben sah, stellte sie fest, wie außergewöhnlich grün das Laub war, als wäre jedes einzelne Blatt von Hand angepinselt worden, um noch lebendiger zu glänzen. Es war wie eine – künstliche und doch vertraute – Theaterbühne am Ende der Welt, ein Theater der Träume, wo das leuchtende Grün der Blätter sich mit dem kunstvoll arrangierten, funkelnden Licht zusammentat und die Mitte der Insel mit Zauber erfüllte.
»Wie … schön!«, flüsterte Aurelia. Allein der Gedanke, lauter zu sprechen, erschien ihr wie ein Frevel gegen das Wunder, das sich vor ihren Augen entfaltete.
»Ja, nicht wahr?« Tristan lächelte selbstzufrieden. »Wir planen den Ball ein ganzes Jahr lang und bedenken jede kleinste Kleinigkeit. Er muss etwas ganz Besonderes sein. Das ist die einzige Vorgabe.«
»Es erinnert mich an Shakespeares Sommernachtstraum «, sagte Aurelia. »Auch wenn ich mir nicht erklären kann, warum.«
Tristan nickte. »Shakespeare soll auch mal auf dem Ball gewesen sein.«
»Wirklich?«
»Das ist natürlich Jahrhunderte her«, erklärte Tristan. »Aber nur die Älteren im Netzwerk kennen die ganze Geschichte … und ich gehöre ja zur jüngeren Generation.«
Schallendes Gelächter drang an ihr Ohr. Zwischen den Bäumen und hohen Büschen rannte eine Frau mit wehendem, weißem Schleier barfuß vor einem Geschöpf davon, das wie ein Faun aussah. Aurelia blinzelte, doch das Paar war im Nu verschwunden, und das Lachen verklang in der Ferne.
»Wir gehen später auf das Fest«, sagte Tristan. »Kein Grund zur Eile.«
Aurelia wünschte sich jedoch nichts sehnlicher, als zu der Lichtung vorzudringen und von den Freuden zu kosten. Sie wollte außerdem unbedingt Siv aufspüren und Lauralynn wiederfinden. Aber Tristan hatte sehr bestimmt geklungen und verströmte diese beunruhigende Anziehungskraft. Wann immer sie in seine grünen Augen sah, überkamen sie unterschiedlichste Gefühle. Sie wusste, dass sie ihm letztlich nicht trauen konnte, doch irgendetwas in ihrem Innern fühlte sich von ihm unwiderstehlich angezogen. Und sie hoffte leise, er würde in ihr einen Hohlraum füllen und viele der quälenden Fragen beantworten, die sie seit frühester Kindheit wie schweres Gepäck mit sich herumschleppte. Aurelia erschauerte. Ein feiner Schleier legte sich vor ihre Augen. Ihr wurde schwindlig, als wäre es ein Hinweis auf unmittelbar bevorstehende Antworten; dazu kam das merkwürdige Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Sie verspürte ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Als könnte er ihre Gedanken erraten, sagte Tristan: »Du spürst es auch, nicht wahr?«
»Was?«
»Dass wir am selben Tag geboren sind.«
»Wirklich? Wie kannst du das wissen?«
»Komm mit!« Er wies auf ein Häuschen zu ihrer Linken. In Aurelia überschlugen sich die Gedanken. Verdammt, wollte er ihr etwa weismachen, er wäre ihr verschollener Zwillingsbruder? In was für ein Romankomplott war sie da hineingeraten? Auf einmal spürte Aurelia eine geradezu überirdische Macht, die ihr Leben beherrschte, an unsichtbaren Fäden zog und sie manipulierte. Rasch verlor sie die Kontrolle über sich.
»Komm mit!«, wiederholte Tristan.
Statt in das kleine, verlassene Holzhaus zu treten, blieb Tristan auf der Veranda stehen. Dann wandte er sich mit ernster Miene zu Aurelia. Sie sah, dass er zögerte. Aus der Ferne hörte man das Lachen der Feiernden, dazu den verlockenden Klang leiser Melodien.
Tristans Blick verriet Verlangen, aber auch Unsicherheit. Er war ebenso groß wie sie, hatte mit seinen breiten Schultern und schmalen Hüften aber die Figur eines Schwimmers. Sie dachte an die Tage, die sie daheim mit Siv und anderen Freundinnen im Schwimmbad verbracht hatte, wo sie oft schrecklich getratscht hatten. Sie hatten neidisch gekichert, wenn die sportlicheren Jungs aus der benachbarten Schule in ihren Badehosen auf und ab stolziert oder angeberisch ins Becken gehechtet waren und mit ihren festen Muskeln vor den halbwüchsigen Mädchen angegeben hatten.
Tristan mit seinen wohlproportionierten Idealmaßen, die sich unter dem fließenden Stoff seiner blauen Uniform abzeichneten, erinnerte Aurelia an diese Knaben. Was nicht recht dazu passte, waren der Hauch von Grausamkeit und die gewisse Oberflächlichkeit, die ihn umgaben.
»Also, was hat es mit dem Ganzen auf sich?«, fragte Aurelia.
»Das weißt du nicht?«
»Nein. Wer ist Lauralynn? Und wer bist
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