Die Farbe der Liebe
Dinge erledigen musste: sich bei Edyta und ihren Adoptiveltern melden, Irving, Irving & Irving antworten. Sie überschlug im Kopf, wie viel Zeit verstrichen war, und kam zu dem Schluss, dass es nur ein paar Tage sein konnten, auch wenn es sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Auf ein paar Stunden mehr oder weniger würde es nicht ankommen.
Andrei legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Der berauschende Geruch von Sex, der noch an seinem Körper haftete, übertönte den Duft von Seife, der ihrer Haut entströmte.
»Du bist der Ball, Aurelia. Du bist die Maîtresse des Balls, bist es immer gewesen.«
Sie blinzelte ihn verständnislos an.
»Niemand weiß, wann genau der Ball zum ersten Mal stattgefunden hat«, sagte er. »Seine Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Zeiten, aber es hat immer eine Maîtresse gegeben, eine Frau, deren Bestimmung es war, den Ball zu leiten. Im Laufe der Jahrhunderte hat der Ball viele Maîtresses gehabt, und viele werden bis heute verehrt …« Sein Blick schweifte in die Ferne, und seine Stimme bekam etwas Träumerisches, als ob er eine Geschichte erzählte, die er schon viele Male erzählt oder in seiner Funktion beim Ball von anderen gehört hatte. Dann gab er sich einen Ruck, als zwänge er sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Ihm war klar, was er Aurelia nun eröffnen müsste, würde bei ihr nicht unbedingt auf Begeisterung stoßen.
»Was weißt du über deine Eltern, Aurelia?«
Sofort spürte sie einen Kloß im Hals. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.
»Sehr wenig«, antwortete sie. »Sie sind gestorben, als ich noch ein Baby war. Ein Unfall, hat man mir erzählt. Meine Adoptiveltern haben mich großgezogen. Mein Vater war Ingenieur, aber was meine Mutter war, das weiß ich bis heute nicht.«
Wollte sie jetzt wirklich mehr darüber wissen? Aurelia war sich dessen gar nicht so sicher. Aus Respekt vor John und Laura, die sie längst als ihre Familie betrachtete, hatte sie aufgehört, Fragen über ihre leiblichen Eltern zu stellen.
»Sie war Tänzerin«, sagte Andrei.
»Tänzerin?« Der Gedanke behagte Aurelia nicht, nicht zuletzt wegen der Dinge, die sie auf dem Ball gesehen hatte.
»Sie gehörte zu uns, zum Ball. Ich selbst habe sie nie kennengelernt. Ich war damals noch zu jung und besuchte eine Schule in Europa.«
»Was für eine Art Tänzerin denn?«, wollte Aurelia wissen.
»Nicht irgendeine Tänzerin. Sie sollte die nächste Ball-Maîtresse sein. Das war ihr von Geburt an vorherbestimmt.«
Aurelia schwirrte der Kopf. Sie fühlte sich außerstande, diese Enthüllung voll und ganz zu erfassen.
Andrei fuhr fort: »Dann hat sie deinen Vater auf dem Ball kennengelernt. Er war ein talentierter Architekt, man hatte ihn für einige Attraktionen des Balls sowie Bauten für zukünftige Veranstaltungen engagiert. Sie verliebten sich, und sie wurde schwanger. In der normalen Welt passiert so etwas alle Tage, aber für den Ball war es ein riesiges Problem. Er gehörte nicht zu uns, und als er erfuhr, was es bedeutete, dass deine Mutter die Maîtresse sein sollte, konnte er das nicht akzeptieren. Er überredete sie, mit ihm zu fliehen. Die Veranstalter des Balls versuchten, sie zurückzuholen, aber … es war zu spät. Seitdem ist der Ball, wie soll ich sagen, irgendwie verwaist, die Position der Maîtresse ist nicht besetzt. Das hatte es noch nie gegeben. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Ein Statthalter wurde eingesetzt, um sich um den Ball zu kümmern, bis wir eine neue Maîtresse feiern könnten. Die Wahl fiel auf meinen Onkel, aber er war damals bereits sehr krank, und so habe ich schon bald diese Aufgabe von ihm übernommen.«
»Man hat mir immer gesagt, meine Eltern seien bei einem Unfall ums Leben gekommen«, sagte Aurelia und legte die Stirn in Falten. Ein Verdacht stieg in ihr auf: War es möglich, dass der Ball etwas mit dem Tod ihrer Eltern zu tun hatte?
»So war es auch. Wir hatten damit nichts zu tun, ich schwöre es dir«, sagte Andrei, der erraten zu haben schien, was ihr durch den Kopf ging. »Wir waren erschüttert, als wir davon erfuhren. Aber dann hörten wir, dass sie ein Kind hatten. Ein Mädchen. Und so bist du unsere zukünftige Maîtresse geworden …«
»Wieso denn das? Warum konntet ihr nicht einfach eine andere Maîtresse bestimmen? Warum musste ich es sein?«
»Du bist dazu geboren, Aurelia«, seufzte er. »Niemand kann seinem Schicksal entrinnen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Er schwieg, um ihr Zeit zu lassen, seine Worte zu
Weitere Kostenlose Bücher