Die Farbe der Liebe
könnte.
Sie hatten so wenig Zeit miteinander verbracht. Und nur so wenig Zeit gehabt zu reden. Sie wusste beinahe nichts über ihn. Was wusste er eigentlich von ihr? Bis zu diesem Augenblick hatten sie sich kaum über ihre Gedanken, ihr Leben oder ihre Träume ausgetauscht. Und dennoch schmolz all das dahin, wenn sie einander Haut an Haut berührten. Ihre körperliche Anziehung war so stark, dass sie alles andere übertrumpfte. Wenn sie sich anfassten, dann war es Aurelia, als ob sich ein Stromkreis schloss und tiefes Einvernehmen zwischen ihnen herrschte, das allen Worten, die sie je gewechselt haben mochten, die Schwere nahm und sie im Grunde überflüssig machte.
Daher verstand sie auch, was ihm Unbehagen bereitete.
»Du wirst nicht mein Lehrer sein?«
»Nein«, antwortete er, ergriff ihre Hand und drückte sie fester an seine Wange. »Ich nicht.«
Es schien für Aurelia nicht die Frage zu sein, ob sie die Ball-Maîtresse werden wollte. Sie war es eben, so einfach war das. Es war nicht ihre Entscheidung. Sie wusste, dass sie mit den Konsequenzen leben müsste, wie sehr sie auch allem, was ihr Liebe und Romantik in ihrem bisherigen Leben bedeutet hatten, zuwiderliefen – ihrem Leben vor dem Ball.
Das verhinderte allerdings nicht, dass bei ihrer Ankunft im Hauptquartier des Netzwerks in Seattle, wo die Ausbildung stattfinden sollte, ihr wild das Herz schlug und ihre Nerven in hellem Aufruhr waren – und sie eher einen Schwarm wilder, kreischender Möwen im Bauch hatte als zart umherflatternde Schmetterlinge.
In seiner Rolle als Statthalter war Andrei dafür verantwortlich, das Netzwerk mit der Tatsache vertraut zu machen, dass Aurelia in die Position der Maîtresse aufsteigen würde. Er hatte auch das letzte Wort über ihren Ausbildungsplan. So sah es die Tradition vor, deren Erbe er war. Das Netzwerk, so hatte er ihr erklärt, war nicht dasselbe wie der Ball, eher eine ihm verbundene Organisation, die im Stillen hinter den Kulissen wirkte, um all die mühseligen, doch unerlässlichen Aufgaben zu erledigen, die ein solches Unterfangen erst ermöglichten. Jedem Zirkuskünstler, Erotiktänzer, Dekorateur, Künstler, Kostümdesigner und Hedonisten, der mit dem Ball um die Welt reiste, war ein ebenso freizügig gesinnter, doch in anderer Weise begabter Buchhalter oder Manager zugeteilt, und sie alle hielten im Hauptquartier des Netzwerks das organisatorische Räderwerk in Schwung.
Sie waren auch für die Auswahl und Ausbildung vieler der Tänzer und Tänzerinnen, der Trapezkünstler und anderer Darsteller verantwortlich und betrieben nebenher einige Unternehmungen ähnlicher Natur, die aber mit dem Ball nichts zu tun hatten. Alles wurde sehr diskret und im Verborgenen abgewickelt, sodass nicht einmal Andrei den vollen Überblick über die Aktivitäten des Netzwerks hatte.
Er begleitete sie zum Hauptquartier, konnte ihr aber nicht sagen, wie es dann weitergehen würde. Da Aurelias Mutter sich abgesetzt hatte, bevor ihre Ausbildung begonnen hatte, fand so etwas seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder statt. Andrei kannte es also auch nur vom Hörensagen.
Es gehörte zur Aufgabe des Statthalters, die Geschichte des Balls zu studieren, soweit sie bekannt war. Aber, erklärte er Aurelia, die sexuellen und kulturellen Normen hätten sich im Laufe der Zeit stark verändert, daher würde sie nicht notwendigerweise den gleichen Prozess durchlaufen wie frühere Maîtressen.
Von Weitem wirkte der Sitz des Netzwerks wie ein ganz gewöhnlicher Bürobau. Auch das Innere sah für Aurelia ganz so aus, wie sie sich die Zentrale eines Unternehmens vorstellte. Nichts erinnerte hier an das fantastische Ambiente des Balls.
Am Eingang empfing sie eine Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren und einer großen, runden Brille. Sie fragte sie nach ihrem Namen und griff zum Telefon, um sie anzumelden. Sie hätte auch gut eine Sekretärin in einem ganz normalen Büro sein können, hätte sie nicht diesen superengen Bleistiftrock getragen, der sie zu einem Trippelschritt zwang. Hinzu kam ihre schwungvolle Wespentaille, die nur das Ergebnis eines eng geschnürten Korsetts sein konnte.
Sie trug Schuhe, wie sie Aurelia noch nie gesehen hatte. Sie waren pechschwarz und glänzten wie Lichtschein auf Wasser, hatten aber keine Laufsohle, sodass sich die Trägerin wie eine Ballerina auf Zehenspitzen bewegte. Zudem zwangen lange, dünne Absätze ihre Füße nahezu in die Senkrechte. Auf ihrem Namensschild stand einfach nur »Florence«.
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