Die Farbe der Liebe
unverkennbarer Trauer in der Stimme.
»Eine Ausbildung?«, fragte Aurelia leise. Es war eine rein rhetorische Frage. Sie wusste genau, was er meinte. Sogleich fiel ihr ein, was sie mit Siv auf der Kunstausstellung gesehen hatte, insbesondere die vermummten Balletttänzerinnen, die so präzise wie Automaten auf Walters Befehle reagiert hatten. Für die Dauer der Vorstellung hatte er noch die kleinste ihrer Bewegungen kontrolliert. Sie hatten auf seine Kommandos reagiert, als ob er ihre Darbietung über eine direkte Verbindung zu ihrem Gehirn gesteuert hätte.
Natürlich hatten sie eine Ausbildung absolviert, dachte Aurelia.
Die Flammenherzen auf ihrer Haut pulsierten weiter, obwohl sie nicht sexuell erregt war. Es war, als ob ihr Nervensystem die Herrschaft über ihr Gehirn übernommen hätte. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie eigentlich wütend auf Andrei sein sollte. Er hatte sie getäuscht, wenn auch vielleicht nicht mit Absicht. Sie war für ihn nicht mehr gewesen als ein Teil seines Jobs – zumindest am Anfang.
Und dennoch … sie konnte nicht leugnen, dass sie es aufregend fand, was er ihr über ihre Rolle beim Ball eröffnet hatte. Sie lag neben ihm, an seine Schulter geschmiegt, sog mit jedem Atemzug den Duft seiner Haut ein. Alles, was sie sich in diesem Augenblick wünschte, war, dass er sie nahm, wieder und wieder. Er hatte recht, sie zogen sich magnetisch an. Sie konnte nicht dagegen ankämpfen, warum sollte das bei ihm anders sein? Welchen Sinn hatte es, gegen seine Natur anzukämpfen?
Alles, was Andrei ihr erzählt hatte, hatte sie nur in dem Gefühl bestärkt, dass ihr ganzer bisheriger Lebensweg vom Schicksal bestimmt gewesen war. Ihre Adoption. Der Jahrmarkt. Ginger und die Party in der Kapelle in Bristol. Der Treuhandfonds, der sie letztlich ins Ausland geführt hatte. Sivs Verschwinden.
Aurelia kam sich auf einmal vor wie eine von Walters Marionetten. Das Einzige, das sie von den verhüllten Frauen unterschied, deren freiwillige Unterwerfung sie so irritierend gefunden hatte, bestand darin, dass sie ihr Schicksal akzeptiert hatten, ja, mehr noch, damit einverstanden waren, es annahmen und daran mitwirkten, statt bloß Spielball unsichtbarer Kräfte zu sein, die sie nicht verstanden. Im Grunde müsste diese ganze Geschichte ihren Zorn hervorrufen. Zorn auf den Ball, auf das Netzwerk, diese bizarre Organisation, die anscheinend von ihrer Geburt an ihr Leben kontrolliert hatte, ohne dass sie je gefragt worden war, ob ihr das passe, oder wenigstens begriffen hatte, worum es überhaupt ging. Und die offenbar sogar ohne irgendeine Erklärung das Erscheinungsbild ihres Körpers änderte!
Aber hinter all ihren Ängsten und ihrer Verwirrung spürte Aurelia auch eine Sicherheit, eine absolute, tief in ihrem Innern ruhende Gewissheit, dass sie zum Ball gehörte. So als hätte jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele sie ohne irgendein Zutun ihres Bewusstseins hierhergeführt.
Sie war nach Hause gekommen. Mehr noch, sie gehörte zu Andrei. Wenn sie sich dafür entschied, die Maîtresse zu sein, dann wäre der Ball ihr Leben, so wie es seines war, und sie würde mit ihm um die Welt ziehen. Andrei würde ihr Anker sein, der ruhende Pol, um den sich ihr Leben drehte.
Eine Frage hatte sie allerdings.
»Wozu braucht selbst die Maîtresse eine Ausbildung? Wenn die Position doch vererbt wird wie die Königswürde oder so was.«
»Aber selbst Könige und Königinnen erhalten eine umfassende Erziehung, damit sie ihre Position richtig ausfüllen können«, erklärte ihr Andrei geduldig. »Die Maîtresse ist die Verkörperung all dessen, wofür der Ball steht. Es ist ein Fest der Sexualität in all ihren Facetten. Und ehe man die nicht begriffen hat – wirklich begriffen –, kann man nicht Ball-Maîtresse sein. Der einzige Weg, etwas richtig zu verstehen, ist, es aus eigener Erfahrung zu kennen. Durch bloßes Zusehen kann man das nicht lernen.«
Seine Worte schwebten in ihr Bewusstsein wie Herbstblätter, die in einen Fluss fallen. All das klang logisch und doch völlig verrückt. Sein Tonfall war dabei schwer und düster. Andrei schien auf einmal sehr bedrückt zu sein. Aurelia sah es daran, wie er dasaß, verkrampft und steif, die Lippen aufeinandergepresst, den Blick gesenkt.
Unwillkürlich versuchte sie, ihn mit einer Berührung zu trösten. Sie streichelte seine Wange, und er ließ sein Kinn in ihre Hand sinken und entspannte sich, als ob sie ihm mit dieser einen simplen Geste alle Sorgen nehmen
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