Die Farbe der Träume
kannte. Das Zollhaus war in eine Leichenhalle umgewandelt worden. Und bis zum Einbruch der Dunkelheit hatten Freiwillige Leichen aus Kaniere dorthin transportiert. Joseph dachte, er sollte vielleicht nachschauen, ob Will oder Harriet auch zwischen den Ertrunkenen aufgebahrt waren, aber er fühlte sich jetzt so müde und krank, dass er nicht zu der Leichenhalle gehen mochte, nicht in dieser eisigen Nacht und nicht, ehe er sich ausgeruht und in seinem Kopf Ordnung geschaffen hatte …
Denn was wäre, wenn er Harriets Leiche fände?
Was sollte er tun, und wohin sollte er gehen, wenn Harriet tot war und es am Ende doch kein Gold gab, weil der Fluss den Kiesstrand überflutet und das Gold weggeschwemmt hatte? Er dachte an all das, was er verloren hatte: sein Zelt und beinahe sämtliche Gerätschaften, alles Geld und auch seine Brieftasche,an der er hing, seine Flinte, seinen Waschtrog, die Angel, die Will zurückgelassen hatte, seine Vorräte, seinen Schnaps, die Dosen und das Kochgeschirr, seine Kleidung, die Harriet gewaschen hatte, seine Pfeife, den Becher mit Gold und auch an all das, was er aus der kurzen Zeit im Lehmhaus mitgenommen hatte. Er besaß jetzt gar nichts mehr. Er trug die nach Mottenkugeln riechenden Sachen eines Toten. Er hatte Mühe, einen Löffel Süßkartoffeln hinunterzubringen. Er war erledigt.
Ernestine Boyd nahm seinen Teller weg. Joseph sah, dass sie auf gewisse Weise gut aussah, mit ihren üppigen Brüsten und einem angedeuteten Grübchen in der Wange. »Und jetzt schlafen Sie«, sagte sie. »Morgen besorge ich uns ein paar Eier und eine Handvoll Teeblätter. Dann fühlen Sie sich schon wieder mehr wie ein Mann.«
Er hörte die jungen Goldgräber kichern, doch es kümmerte ihn nicht, er schenkte ihnen keine Beachtung. Er bat die Witwe, etwas Holz nachzulegen, da er die Kälte nicht loswerde, sie habe sich einfach in seinen Knochen festgesetzt, und er wolle nicht gern neben einem erloschenen Feuer aufwachen. Sie tat, worum er sie bat, und während sie das Holz holen ging, hob Joseph den Kopf und blickte aus dem kleinen Fenster und hörte das Rauschen des Meeres.
III
Als Harriet wieder erwachte, sah sie, dass sie allein in Pao Yis Hütte lag.
Sie richtete sich auf und stützte sich auf ihre Ellbogen. Das Feuer brannte noch hell, und Harriet bemerkte den Holzstapel, der ordentlich zu einem hübschen Muster aufgeschichtet war, fast wie eine Art Rankgitter. Und auch das Feuer brannte unverändert ordentlich und gehorsam.
Ihr Fieber war zurückgegangen. Sie lüpfte die Decken, in diesie eingewickelt war, und stellte fest, dass sie Pao Yis Kleider trug. Die Sachen waren grau und zerknautscht und rochen nach ihrem eigenen Schweiß, aber auch nach etwas Fremdem, etwas wie Weihrauch.
Sie setzte sich auf und betrachtete ihre weißen Füße, die aus der Baumwollhose hervorsahen. Sie blickte sich suchend nach ihren eigenen Sachen um, den Röcken und dem Hemd, entdeckte sie aber nirgends. Plötzlich hatte sie das Bild vor Augen, wie sie beim Lehmhaus Wäsche auf die Leine hängte und Josephs Hemden sich im Wind blähten. Schon damals hatte sie keinerlei Zärtlichkeit für seine Sachen empfunden. Liebe, dachte sie, lässt sich an den Gefühlen für die Wäsche des anderen ermessen.
Im Tageslicht, das durch die Sackleinwand im Eingang drang, ließ Harriet den Blick durch die Hütte wandern und versuchte, aus den Gegenständen, die sie sehen konnte, etwas über das einsame Leben des Mannes herauszulesen, der sie gerettet hatte.
Da gab es also einen schwarzen Steingutkrug, wahrscheinlich für Wasser, eine Reihe Kochtöpfe und ein Drahtsieb, die an Nägeln an der Wand hingen. Es gab Säcke mit Reis und mit Mehl, einen Krug mit Öl sowie Mörser und Stößel aus Stein. Und es gab eine ramponierte Weidentruhe, die einmal Kleider oder Bettwäsche enthalten haben mochte. Oben auf der Truhe lagen einige dicke vergilbte Bögen Papier in einer abgewetzten Lederhülle und mit Kordel zugebunden.
Vor die Wand, die aus dem Felshang bestand, war ein primitives Holzregal gebaut, und auf diesem kleinen Regal stand eine Tafel, ebenfalls aus Holz und mit chinesischen Schriftzeichen bemalt. Einige Kerzenstummel lagen neben der Tafel, und dahinter, direkt am Stein, lehnten vier verblasste Aquarelle – Porträts eines älteren Mannes, einer älteren Frau, einer jungen Frau und eines Kinds. Und Harriet begriff, dass das Pao Yis Hausaltar für sein eigentliches Leben war, sein Leben an jenem See,ein Altar für die
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