Die Farbe der Träume
Menschen, die er verlassen hatte und zu denen er eines Tage zurückkehren würde.
Sie legte sich wieder hin. Und sie merkte, wie sie sofort Zuneigung zu diesen Fremden auf den Aquarellen fasste, als hätte sie sie früher einmal gekannt oder als wären sie hier, um ihr ganz selbstlos Gesellschaft zu leisten. Doch da war noch mehr. In dieser niedrigen, dunklen Hütte herrschte – das spürte sie – eine tiefe, unbenennbare, besondere Stille. Und sie beschloss, einfach hier liegen zu bleiben, sich nicht zu rühren und zu warten, dass alles um sie herum zur Ruhe kam und still wurde. Ihr zukünftiges Leben würde hart und einsam und lang sein, und deshalb könnte es ruhig noch etwas auf sie warten, einen Tag oder mehr als einen Tag, so lange, bis das Wasser wieder gefallen war …
Sie fühlte sich schläfrig, wollte aber nicht die Augen schließen, weil sie jeden einzelnen Moment dieses ungewöhnlichen Zustands auskosten wollte. Ihr schien, als würde sie geradezu aufgefordert, seine Besonderheit wahrzunehmen. Sie versuchte sich zu erinnern, ob ihr so etwas schon einmal widerfahren war, aber sie glaubte, dass sie in ihren fünfunddreißig Jahren die Welt und sich selbst noch nie so bewusst wahrgenommen hatte. Im Moment erlebte sie die Dinge – ihre Struktur, ihre Farbe, ihren Duft – derart intensiv, dass alles in ihrem Herzen zu einem einzigartigen Gefühl vollkommenen Lebendigseins zusammenschoss.
Nach einer Weile – einer Zeitspanne, von der Harriet nicht zu sagen gewusst hätte, ob sie lang oder kurz gewesen war – hörte sie, wie Pao Yi vor der Eingangstür seine Stiefel auszog. Deshalb tat sie so, als schliefe sie, tat so, als wäre sie noch genauso hilflos wie während des Fieberanfalls, denn sie wollte gern weiter hier liegen und ihn in der Hütte herumwerkeln sehen. Sie dachte, es wäre noch früher Vormittag und Pao Yi hätte vielleicht seit dem Hellwerden im Garten gearbeitet und wäre jetzt hungrig. Er würde Holz in das adrette Feuer legen und etwaszu essen machen. Und wenn das Essen fertig wäre, würde er ihr auch etwas anbieten, und es würde ganz und gar anders schmecken als alles, was sie kannte.
Sie hörte ihn leise die Hütte betreten und die Tür schließen. Sie hörte ihn einen Henkelkrug mit Wasser füllen und trinken. Dann schien es, als wäre er nicht mehr in der Hütte, so still war es plötzlich. Doch als sie die Augen öffnete, sah sie ihn vor dem Regal mit der Tafel und den gegen die Steinwand gelehnten Aquarellen stehen. Und er schaute die Bilder an, ohne sich zu bewegen, ohne mit den Augen zu blinzeln, ohne die Kopfhaltung auch nur um Millimeter zu verändern. Aber sie wusste, dass er stumm mit den Bildern sprach, dass er etwas sagte und dann, ohne sich zu bewegen oder den Blick zu verändern, wartete, wie auf eine Antwort, und dann wieder etwas sagte. Und sie stellte sich vor, dass er diese Menschen hier in seinem einsamen Leben am Rande des Styx-Tals ganz entsetzlich vermisste und dass er Heimweh hatte nach seinem Dorf und seinem Boot und seinem See.
Pao Yi schien so versunken in sein Gespräch, dass Harriet ihn einfach weiter anschaute, weil sie glaubte, er nehme ihre Anwesenheit und ihr indiskretes Starren gar nicht wahr, aber plötzlich drehte er ohne Vorwarnung den Kopf und sah sie auf eine Weise an, als hätte er es durchaus die ganze Zeit bemerkt. Und es lag eine neue Festigkeit in seinem Blick. Als wäre er aus sehr weiter Ferne zurückgekehrt und hätte etwas von der Kraft dieses entfernten Ortes mitgenommen, die sie nun in seinen Augen lesen konnte.
Harriet senkte den Blick. Sie spürte ihre innere Erregung. Und während die Sekunden vergingen und sie sich nicht zu bewegen wagte und Pao sich auch nicht bewegte, wusste sie, was sie wollte, sie wollte von ihm berührt werden.
Und als sie sich das erst einmal eingestanden hatte, existierte nichts anderes mehr in ihrem Kopf, und sie dachte, wenn er sie jetzt nicht berührte, wenn er unempfänglich für sie wäre undnicht spürte, was sie sich wünschte, dann würde ihre Sehnsucht nach seiner Berührung ins Unermessliche wachsen. Und dennoch wusste sie, dass sie nichts sagen und nichts tun konnte. Sie konnte nur mit abgewandtem Gesicht dort liegen bleiben, wo sie war. Doch mit ihrem Verstand, ihrem Willen, der stets so stark gewesen war, begann sie, ihn zu sich zu rufen.
Sie sah den flackernden Widerschein des Feuers an der Bretterwand der Hütte und hörte den Fluss in seinem neuen Bett rauschen und spürte doch, wie
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