Die Farbe der Träume
nach Kokatahi.
Ernestine Boyd erbot sich, ihm die Haare zu schneiden, die inzwischen lang und struppig waren. Aber er lehnte ab. Er wollte bleiben, wie er war – ein vom Glück und vom Alltag Ausgestoßener, solange er nicht wieder in seiner Heimat war.
Er begann seine Reise flussaufwärts an einem kalten, dunklen Morgen.
Im tiefhängenden, violetten Himmel glaubte Joseph eine Andeutung von Schnee zu erkennen. Er begriff, dass er sich im Wettlauf mit den Jahreszeiten befand. Zwar könnte er es vielleicht bis zu Harriets Lager schaffen, aber nur, um dann, amoberen Ende des Tals, von Schnee überrascht zu werden, was eine Rückkehr nach Hokitika unmöglich machte. Und so schwach, wie er war, würde er den Winter in irgendeiner Notunterkunft da oben sicherlich nicht überstehen. Er würde sich einfach hinlegen und sterben. Er würde sterben wie die Kuh Beauty, still und lautlos.
Der Wasserpegel des Flusses war inzwischen gefallen. Auf der ganzen Strecke von Kaniere bis Kokatahi waren die Ufer übersät mit den üblichen Hinterlassenschaften der Goldgräber – mit Brettern und Rädern, zerrissenen Zelten, rostigen Eimern und Ketten, kaputten Pickeln und Schaufeln, und einmal stieß er auch auf eine merkwürdige Landzunge aus grauen und braunen Lumpen, die sich im flachen Gewässer ausbreitete. Möwen zankten sich kreischend in der kalten Luft.
Joseph fürchtete, auf Leichen zu stoßen. Er sah Ratten, die einen Kadaver in Stücke rissen, und schaute rasch weg. Er vermisste seine Flinte. Er fühlte sich zu leicht, zu substanzlos ohne seine Goldgräberausrüstung, die er immer mit sich getragen hatte. Er brach sich im Buschland einen Ast, den er als Stock benutzen wollte, und mit dem desinfizierten Schaffell um die Schultern, seinen zotteligen Haaren und dem Bart kam er sich nun wie ein verrückter Prophet aus der Wildnis vor.
Als er die Stelle erreichte, wo sein Zelt gestanden hatte, trank er aus dem Fluss und setzte sich ins modderige Gras. Wasser und Milch hielten ihn in letzter Zeit am Leben, während er bei dem Gedanken an Speck und Hammelfleisch sofort eine Gänsehaut bekam. Manchmal hatte er in der Hütte in Hokitika ein bisschen Brot gemümmelt oder die Rindertalgklöße gegessen, die Mrs Boyd mit dünner Soße auftischte, aber selbst die hatte er nur schwer hinuntergebracht. Er hätte gern Bier getrunken, schäumend und stark, aber er hatte kein Geld für Bier und wusste, er musste so viel wie möglich von den dreißig Schilling sparen, wenn er sich überhaupt die Chance auf eine Schiffspassage in die Heimat erhalten wollte.
Er stand auf und setzte seinen Weg fort. Jetzt befand er sich auf unbekanntem Terrain. Hierhin hatte er seinen Fuß bislang noch nicht gesetzt, und er spürte die große Ruhe dieser Landschaft. In Kokatahi allerdings schien Lärm der Goldgräber nach wie vor über dem Gelände zu liegen, obwohl längst alles fortgeschwemmt war. Doch hier, wo noch niemand nach Gold gegraben hatte, herrschte abgeschiedene Stille, und alles schien noch in ursprünglichem Zustand. Er sah Eistaucher, die über das Wasser schossen, und einen Reiher, der reglos auf einem Felsen stand. Das dichte Grau am Himmel begann sich zu lichten, und ein Sonnenstrahl fiel auf seinen schmalen Pfad.
Joseph wusste, dass ihn der Anblick dieser Dinge zu anderen Zeiten erfreut hätte, doch jetzt konnte ihn nichts mehr erfreuen, nichts jedenfalls in Neuseeland, nichts, was die Natur oder der Mensch hier ausgeklügelt hatten. Er wollte nur noch fort.
Er kam nur sehr langsam voran und stützte sich bei seinem Aufstieg immer stärker auf seinen Stock. Ständig suchte er am Himmel nach Anzeichen für Schnee. Und er wusste nicht, wie lange er schon gelaufen war, als er wieder einmal den Kopf hob und am anderen Ufer, oberhalb der neuen, höheren Wasserlinie, den Gemüsegarten des Chinesen sah.
Joseph blieb stehen. Jetzt schneite es tatsächlich. Trotzdem schien noch die Sonne, und Joseph bestaunte die Farben in dem Garten und dachte, dass er das, was dort wuchs, wahrscheinlich essen konnte – dass ein Mensch, dem das Leben den Appetit genommen hatte, solch eine Nahrung vertrug. Und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass sein Zorn auf Skorbut-Jenny hässlich und unnötig gewesen war, ein beschämendes Zeichen seiner Abhängigkeit von Will Sefton, eine Art Wahnsinn.
Er erinnerte sich, dass die Chinesen, denen er begegnet war – auch die Männer, die er auf der Wallabi beobachtet hatte –, alle eine Art stiller Resignation
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