Die Farbe der Träume
plötzlich wieder ganz deutlich vor Augen, wie Dürre, Regen und Wind das Lehmhaus genommen hatten; damals flatterten die Kattunwände im Tussockgras, und die Haustür hatte sich in die Erde gerammt …
Das kurze Aufflackern des Feuers, als ein glimmender Holzklotz auseinanderbrach, brachte Harriet in die Gegenwart zurück. Sie widmete sich wieder ihrer Aufgabe und horchte. Sie begann aufzuzählen, was sie hören konnte:
Keinen Wind oben im Busch.
Den immerfort dahinströmenden Fluss.
Das Seufzen ihres eigenen Herzens.
Kein anderes Geräusch.
Dann kam das Tageslicht: ein Tag wie ein grauer Schatten.
Ihr war jetzt wärmer, weil das Feuer wieder brannte.
Sie wandte den Kopf und sah Pao Yi vor dem Feuer knien und seinen Zopf flechten. Sie erkannte ihn und wusste, dass er sieaus dem Fluss gerettet hatte und dass sie offenbar in seiner Hütte oberhalb des Gemüsegartens lag.
Sie tat, als schliefe sie, und betrachtete ihn, ohne sich zu rühren: sein Gesicht, das komisch traurig war, seinen dicken Zopf, seine Hände, die empfindsam aussahen, wie die Hände eines Flötenspielers. Jetzt fiel ihr auch sein Name ein. Ihr fiel ein, dass er in seinem anderen Leben ein Boot besessen und in einem fernen See gefischt hatte.
Pao Yi erhob sich, schlich leise und geschäftig in der Hütte herum – faltete eine Decke, füllte eine Blechkanne mit Wasser, holte getrocknete Lebensmittel aus einem Vorratssack, zerkleinerte Anmachholz für das Feuer. Und es schien Harriet, als habe sie noch nie jemanden sich so bewegen sehen, barfuß und lautlos. Am liebsten hätte sie ihn den ganzen Tag lang so beobachtet – ihm zugesehen, wie er seinen Tee trank oder sich etwas zubereitete und aß; ihm zugehört, wie er pfiff oder sang oder mit sich selbst redete; ihm zugesehen, wie er sich wusch und rasierte; seine nackten Arme betrachtet, die sie aus dem Wasser geholt hatten, und seine schmalen Hüften, seine starken Schenkel und sein Geschlecht.
Pao Yi kam zu ihr herüber und kniete sich neben sie, und Harriet senkte die Lider und fragte sich, ob er ihr Starren bemerkt hatte, dieses Eindringen in sein Leben mit ihrem fiebrig erhitzten Hirn. Dann spürte sie seine Hand auf ihrer Stirn, und etwas so Schönes wie diese Berührung hatte Harriet noch selten erlebt. Sie wünschte sich, die Hand möge da liegen bleiben und sich nie mehr fortrühren. Sie versuchte zu sprechen, ihn vielleicht zu bitten, so zu verharren, sich nicht zu bewegen, aber sie merkte, dass sie kein Wort herausbrachte, weil sie weinte. Sie weinte fast geräuschlos, aber ihre Tränen flossen unaufhörlich, liefen ihr übers Gesicht und den Hals hinunter und bildeten einen kleinen See in ihrer Schlüsselbeinkuhle. Sie spürte, wie Pao Yis Hand sachte von ihrer Stirn zu ihrer Wange wanderte und dort Halt machte, als wollte sie ihre Tränen einsammeln, als könnte er mit seiner Handfläche all ihren Kummer aufsaugen.
»Weinen für Lady?«, fragte Pao Yi leise. »Schwarz. Weiß. Weinen für Sterben?«
D ER G LOCKENVOGEL SINGT
I
Als die Flutwelle Kokatahi erreichte, arbeitete Joseph am Grund seines achten Schachts.
Er hatte den blauen Ton in Schacht 8 schon schimmern sehen, und wie jedes Mal, wenn er die Tonschicht erreichte, war die vertraute, jedoch vergebliche Hoffnung aufgeflackert. Und dann hörte er das Donnern des Wassers. Er hob den Kopf. Er setzte gerade einen Fuß auf die wackelige Leiter, als die Flutwelle den Rand des Schachts erreichte. Das Wasser stürzte sich auf ihn, er fiel ins Loch zurück.
Er tastete nach der Leiter, packte sie, kletterte hinauf, hielt den Kopf aus dem Wasser. Überall um ihn herum schrien Menschen. Jetzt brachen sich weiße Wellen an Josephs Kopf wie an einem Stein, und er wurde in den Schacht zurückgedrückt.
Wieder suchte er mühsam die Leiter und klammerte sich daran fest, als ihn das eisige Wasser hochstrudelte. Seine Füße wurden vom Boden gehoben, und jetzt versuchte er mit aller Kraft, unten zu bleiben, nur kurz zwischendurch auf Vorrat Luft zu holen, denn ihm war klar, dass die Flut ihn bloß deshalb nicht mitgerissen hatte, weil er sich im Schacht befand. Tatsächlich hatte Joseph eine derart starke Strömung noch nie erlebt. Jeder, der oben im Freien gestanden hatte, war mit Sicherheit umgeworfen und in den eiskalten Fluten fortgewirbelt worden.
Das Wasser war so kalt, dass Joseph das Gefühl hatte, in Eis verpackt zu sein. Trotzdem wusste er, dass er im Loch ausharren musste, bis das Wasser sich verteilt und beruhigt hätte.
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