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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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bald wieder auf, da er die Flasche brauchte. Sein Penis schmerzte und brannte. Auf der Suche nach der elenden Flasche sah er sich im Zimmer um und entdeckte sie neben sich auf dem Stuhl. Er griff danach, und als er mit der anderen Hand sein Nachthemd hochziehen wollte, stieß er in den zerknautschten Falten des Hemds zwischen seinen Beinen auf etwas Hartes. Er holte es vor. Es war sein verlorenes Taschentuch.
    Danach ließ er es nicht mehr los. Es war stets in seiner Faust oder zwischen seinen langen Fingern unter dem Kissen.
    Erst als er etwa zwei Wochen später wieder gesund war, vertraute er das Taschentuch einem Ort an, den er für sicher hielt. Es war eine leere Holzdose oben im Küchenregal, die einmal Tee enthalten hatte, deren Etikett jedoch fehlte und die offensichtlich in Vergessenheit geraten war.
    Joseph stellte die Dose, nachdem er den Deckel über ihrem kostbaren Inhalt wieder sorgfältig zugenagelt hatte, in den schmalen Zwischenraum zwischen der Wand aus gespanntem Kattun und der Lehmaußenwand seines Zimmers, drückte sie fest in den Boden und deckte sie mit Erde zu. Er war sich absolut sicher, dass weder Lilian noch Harriet die Dose jemals entdecken würden. Denn für die beiden war der Kattun eine feste Wand, und ihre Fantasie reichte nicht bis hinter das Tuch. Es war in der Tat ein Ort, der eigentlich nicht existierte, ein Ort, von dem alle so taten, als gäbe es ihn nicht.

Z WISCHEN DEN WEISSEN S TEINEN
I
    Als Edwins Maorikindermädchen Pare vom Hof der Orchards gejagt worden war, hatte sie sich zu Fuß nach Kaiapoi zu ihrem Stamm aufgemacht.
    Nachdem sie mehrere Stunden lang nach Südosten gelaufen war, erreichte sie den nördlichen Nebenfluss des großen Waimakariri und rastete dort bei Sonnenaufgang.
    Sie setzte sich auf einen weißen Stein, hielt die Füße ins Wasser und aß ein paar Rosinen aus ihrem Bündel mit dem Wenigen, was Toby Orchard ihr mitzunehmen erlaubt hatte.
    Im weichen Morgenlicht – die Vögel begannen schon zu singen – fürchtete Pare sich nicht mehr vor dem Ngārara. Sie wusste, dass das, was sie auf der Veranda vom Orchard-Haus gesehen hatte, wahrscheinlich doch nur ein neugieriger Gecko gewesen war, und nun hatte sie – wegen des schrecklichen Winds und der Macht einer uralten Erzählung – Edwin verloren, ein Kind, das Pare in ihrem kinderlosen Leben wie ihr eigenes zu lieben gelernt hatte.
    Die Rosinen schmeckten fast zu süß, waren hart und lagen ihr schwer im Magen.
    Pare schöpfte mit den Händen das kühle Wasser des Flusses und trank und trank.
    Sie hatte Edwin nicht mehr sehen dürfen, nachdem Dorothy ihn gefunden und in ihr Bett gelegt hatte; sie war fast ohne alles in die Nacht hinausgeschickt worden: nur mit ihren Kleidern, ihrem geliebten Grünsteinanhänger und dem Korb aus Flachs. Sie wusste, dass Edwin wahrscheinlich sterben würde. Die Wiege hatte sich von der Veranda in die Luft geschwungen und das Baby in den Staub geworfen. Pare stellte sich vor, wie Edwins Hals, diese zarte Stelle, die sie so oft geküsst hatte, von einem schrecklichen Schlag von der Kraft eines Matipo-Knüppels getroffen wurde undsein armes Köpfchen schlaff und stumm wegkippte. Tränen stürzten ihr aus den Augen, bitter und salzig, und sie, sie würde ihr Leben lang bereuen, dass sie die Geister so erzürnt hatte.
    Die Sonne stieg höher, und die Vögel verstummten. In der Strömung des Flusses sah Pare jetzt einen Schwarzbuchenklotz treiben. Sie verfolgte ihn mit den Augen. Er trieb direkt auf sie zu. Ein unangenehmes Gefühl regte sich in ihrem Magen, sie legte die Rosinen beiseite und versuchte, den Schmerz zu lindern, indem sie ihren Leib sehr sanft massierte, so wie sie es manchmal bei Edwin getan hatte, wenn er Bauchgrimmen hatte und schrie. Der schwarze Klotz kam immer näher. Immer schlimmer wurden ihre Schmerzen.
    »Aue!«, jammerte Pare. »Was bist du?«
    Der Klotz landete fast vor ihren Füßen, ein kleines Riff aus weißen Steinen hatte ihn gebremst. Er glänzte blauschwarz in der Sonne. »Was bist du?«, fragte Pare noch einmal.
    Dann hörte sie eine Stimme in sich. Die Stimme schalt Pare. Sie sei wie Houmea, die Kormoranfrau, die ihre eigenen Kinder fraß, so wie ein Tüpfelkormoran einen Fisch frisst. Die Stimme warnte sie: Das Pākehā-Baby werde sterben – und sie werde ebenfalls sterben –, es sei denn , sie kehrte zurück und wachte über das weiße Baby. Während die Stimme sprach, fühlte Pare etwas über ihre Lippen kriechen, sie griff danach und

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