Die Farbe der Träume
rannte er hinein. Sie drückte ihn lange an sich, und er streichelte die Kiwifedern und atmete den Duft ihres geölten Haars.
Sie sagte, sie werde jetzt von Zeit zu Zeit hierherkommen, um über ihn zu wachen, aber das dürfe er niemals seinen Eltern verraten. Er fragte, woher sie gekommen sei und ob sie in einem Haus aus Flachs wohne. Sie lebe im Pā bei ihrem Stamm, erwiderte sie, und sie sei krank gewesen, aber nun, da sie ihn in seinem hübschen blauen Anzug gesehen habe, könne sie wieder gesund werden. Er zeigte ihr stolz die Raupe, die auf seiner Hand im Kreis laufen konnte. Pare drückte ihre Stirn an seine Stirn, berührte seine Nase mit ihrer, und es war, als könne er sich daran erinnern, an dieses Gesicht dicht vor seinem und an das Gefühl ihrer glänzenden Haut.
Dann hörten sie Dorothy nach Edwin rufen, und er befreite sich aus Pares Umarmung. Sie sagte: »Such immer hier nach mir, im Toi-Toi-Gras. Manchmal werde ich hier sein, und manchmal werde ich weit hinter dem Fluss bei meinem Stamm sein.«
»Soll ich jeden Tag nachsehen?«, flüsterte Edwin.
»Nein«, sagte Pare. »Ich kann diese Reise nicht jeden Tag machen. Doch du kannst mich rufen – aber leise, damit dich niemand anders hört. Sag: ›Pare, bist du da?‹ – und wenn ich hier bin, werde ich antworten.«
Die Krankheit wich von Pare. Sie begann wieder zu essen, Aale und Kūmara und Vögel, und bald umhüllte wieder weiches Fleisch ihre Knochen. So vergingen die Jahre. Nun glaubte Pare aber, sie habe bis ans Ende ihres Lebens über Edwin Orchard zu wachen. Jeden Monat kehrte sie also zurück, ohne dass Dorothy oder Toby davon erfuhren, und saß im hohen Gras in ihrem Kiwiumhang und wartete.
Manchmal musste sie sehr lange warten, schlief dort im Gras, lebte dort, immer in der Furcht vor Entdeckung. Aber sie wurde nie entdeckt. Der Umhang schien sie vor neugierigen Hunden zu schützen und vor den Augen aller zu verbergen. Und irgendwann kam schließlich Edwins Ruf: »Bist du da, Pare?«, und sie antwortete flüsternd: »Ich bin hier, E’win. Ich bin hier.« Und dann saßen Edwin und sie im Gras, das sie geflochten hatte, damit es weich war, und sie erzählte Geschichten, und Edwin merkte, dass Pares Geschichten anders waren als alle, die er sonst kannte.
II
Es war jetzt Mitte Winter. Mitte Winter im August.
Lilian Blackstone schaute ungläubig in ihren Kalender, als Hagelkörner gegen die Fenster vom Lehmhaus prasselten. Im Geiste sah sie das Augustlicht auf den Wiesen und Gewässern von Parton Magna und hörte den unruhigen, pfeifenden Schrei der Schwalben.
Mit ihrem Plan war sie nicht weitergekommen; ihren Brief an Lily Dinsdale hatte sie nie abgeschickt. Denn Josephs Krankheit hatte sie zu dem Entschluss gebracht, dass sie ihn nicht im Stich lassen konnte. Nicht jetzt. Jetzt müsste sie sich erst einmal »dahinterklemmen« und das Beste aus der Situation machen. Wulla . Es gab Zeiten, in denen solch ein Sich-Dahinterklemmen einfach nicht zu vermeiden war.
Lilian entging auch nicht, dass der Winter Joseph nach und nach alle Energie aussaugte. Mit hängenden Schultern wanderte er über sein leeres Land, wobei er ständig die Hände öffnete und schloss, als wäre er ein Pianist, der zu einem schwierigen Stück ansetzt. Auch Harriet wurde sichtlich immer müder.Harriet Blackstone war ihre berühmte Entschlossenheit, von der so viel abhing, abhanden gekommen. Für Lilian gab es da keinen Zweifel. Manchmal saß die junge Frau beängstigend still am Tisch, hielt noch das Messer oder sonst irgendein Utensil in der Hand, tat aber nichts damit. Mit ihren großen Augen starrte sie auf nichts Bestimmtes im Zimmer, sondern anscheinend auf eine innere Landschaft, die wenig Tröstliches zu bieten hatte.
»Harriet?«, fragte Lilian sie dann. »Geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch …«, antwortete Harriet jedes Mal und nahm die Arbeit, die sie begonnen hatte, sofort wieder auf, schälte Karotten, rollte einen Mürbeteig aus … Aber sie gestand Lilian, dass »der Tod von Beauty mir immer noch nachgeht«. Sie sagte, sie begreife nicht, wieso bestimmte Dinge hatten überhaupt passieren können.
Häufig ertappte Lilian sie dabei, wie sie nach etwas suchte, das sie jedoch nicht benennen wollte. Sie hörte, wie Harriet mit Joseph über Lady, die Colliehündin der Orchards, stritt. Harriet wollte sie so gern haben, aber Joseph erklärte, einen Hund könnten sie sich nicht leisten. Viele stille Stunden lang saß Harriet am Tisch und schrieb Briefe
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