Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
für ihn empfand, kein Mitleid und keine Liebe.
    Ihre Gefühllosigkeit erschütterte sie. Es war, als läge ein schwerer Stein auf ihrer Brust. Und sie fragte sich, wie und wo sie sich von dieser Last würde befreien können. Sie fasste sich an die Brust. Der Anblick von Josephs blassen Fingern ekelte sie, und rasch verließ sie den Raum.
    Sie setzte sich an den Herd und hoffte, weder Joseph noch Lilian würden so schnell aufwachen. Ihr wurde klar, dass sie unbedingt herausfinden musste, wie sie dieses Leben hier weiterführen konnte. Denn was blieb ihr anderes übrig? Sie schloss die Augen. Sie würde ihre Gefühle verbergen müssen, sie einem Ort anvertrauen, wo sie nie ans Licht kämen. Aber wie sollte man etwas wegschaffen oder verbannen, das in einem war und nicht herauskonnte?
    Nachdem Harriet eine Weile vollkommen still dagesessen hatte, holte sie vom oberen Küchenregal die chinesische Teedose, die sie in Reads Kolonialwarenladen in Christchurch gekauft hatte. Das hübsche Etikett mit den beiden Reihern, die ihre Hälse umeinanderschlangen, klebte inzwischen in ihrem Album, aber die Dose, die noch immer nach Tee roch, hatte sie aufbewahrt, denn sie gehörte zu den Dingen, die sich vielleicht eines Tages gut gebrauchen ließen. Es war eine Dose aus billigem Holz, sorgfältig gearbeitet und mit einem aufgenagelten Deckel.
    Mithilfe eines Messers hebelte Harriet den Deckel auf, die Nägel lösten sich schnell und sauber. Sie starrte in die leere Dose aus Kanton, die eine endlose Seereise über den Pazifik hinter sich haben musste. Tee und Seide, Opium und Elfenbein waren so gereist. Und chinesische Siedler, die auf Geld und Gold hofften … Sie hatten sich, genau wie sie selbst mit ihren Träumen von Grundbesitz und Kindern, nach Aotearoa aufgemacht, dem Land der langen weißen Wolke. In eine neue Welt.
    Jetzt gab es nur dies hier, diese neue Welt. Sie musste selbst etwas daraus machen. Und während draußen vorm Fenster der Nachmittag in den Abend überging, geschah es, dass Harriet sich vorstellte, wie sie die schwere Last ihrer Abneigung gegen Joseph dieser Dose anvertraute und wie die Dose – dieser unbedeutende Gegenstand – ihr helfen würde, das Leben hier weiterzuführen. Für sie war diese Last ein Klumpen aus einem unbekannten Metall, der so genau in die Dose passte, dass sie wie für ihn geschaffen schien – nicht für Tee, sondern einzig und allein für diesen Klumpen. Harriet wusste, dass es kindisch war, was sie sich da ausdachte, aber das kümmerte sie nicht.
    Wenn es ihr half, weiterzumachen, dann war es doch in Ordnung.
    Harriet nagelte den Deckel vorsichtig wieder auf die Dose und stellte sie an ihren angestammten Platz oben im Regal. Und dann ging sie zu Joseph und weckte ihn sanft. Er nahm ihre Hand in seine, die glühend heiß war. Er sagte etwas von einem Fieber, das er sich dummerweise geholt habe, weil er zu lange am Fluss gewesen sei. Er habe sich wohl erkältet, als er den Verlauf des Kanals bestimmen wollte, der das Wasser in seinen Teich leiten würde.
    In jener Nacht seufzte und schwitzte Joseph im Bett, während Harriet daneben auf dem Lehmboden schlief. Zweimal wachte sie auf, als er in eine Flasche zu pinkeln versuchte und aufschrie, weil es ihm offenbar Schmerzen verursachte.
    Sie holte ihm Wasser, drehte seine Kissen um, trocknete sein nasses Gesicht und kehrte an ihren Platz auf dem Boden zurück.
    Der harte Boden machte ihr nichts aus. Sie träumte, dass sie irgendwo weit weg in den Bergen war, allein mit dem Geräusch fließenden Wassers und dem stummen Leuchten der Sterne. Nicht weit von der Stelle, wo sie lag, stand regungslos ein großes Pferd, als wache es über sie.
III
    Josephs Fieber war sehr schnell gekommen.
    Als er mit dem ins Taschentuch geknoteten Gold zum Lehmhaus zurückgekehrt und besorgt überlegt hatte, wo er es verstecken sollte – in diesem Haus, das gar kein richtiges Haus war und wo er keine private Ecke besaß –, hatte er am ganzen Körper zu zittern begonnen. Er legte Kohlen nach und lehnte sich an den Herd, aber obwohl seine Wangen brannten, wurde er nicht warm. Seine Beine schmerzten und zuckten nervös. Die Blase tat ihm weh.
    Lilian hatte ein Gericht aus Sardinen und Zwiebeln gekocht, aber Joseph konnte nichts essen. Er hatte das Gefühl, ein unglaublich schweres Gewicht werde ihn im nächsten Augenblick zu Boden schmettern. Er dachte an die gläsernen Pailletten auf den Kostümen der Zirkusakrobaten und sah, wie die Menschen hinabstürzten

Weitere Kostenlose Bücher