Die Farbe der Träume
wischte eine Fliege weg, die auf ihr Knie flog, und sie sah, dass es eine Schmeißfliege war.
Pare erbrach sich ins Wasser. Die Stimme sagte: »Jetzt siehst du deine Krankheit. Dies ist der Beginn deines Sterbens.«
Sie legte sich unter einen Drachenbaum und schlief ein, und als sie in seinem grünen Schatten erwachte, fragte sie sich, ob die Stimme, die sie gehört hatte, die Stimme eines Geists, eines taniwha, gewesen war. Die taniwha konnten vielerlei Gestalt annehmen, und dieser hier war ja vielleicht in die eines Schwarzbuchenklotzes geschlüpft.
Sie stand auf und ging leicht schwankend ans Ufer. Der Klotz war immer noch da, aber die Strömung des Waimakariri hatte ihn an die Spitze des Riffs geschoben, und jetzt sah sie, wie er sich drehte und wieder vom schnell fließende Wasser erfasst wurde.
Während er wegtrieb, schien die Stimme zu flüstern: » Geh zurück und gib acht .«
Pare war hungrig und schwach. Und zu ihrem Stamm waren es nur noch wenige Kilometer, während der Rückweg zur Orchard-Farm Stunden dauern würde – mit blasenübersäten Füßen und leerem Magen –, weshalb sie fürs Erste beschloss, die Warnung der Stimme zu ignorieren und in ihre Heimat zurückzukehren.
Also machte sie sich auf den Weg nach Kaiapoi. Und während sie so dahintrottete, überlegte sie sich Folgendes: Wenn sie sich den Ngārara nur eingebildet hatte, dann hatte sie sich in ihrem Kummer über Edwin die Stimme in ihrem Kopf womöglich auch eingebildet. Und außerdem hatte die Stimme etwas Unmögliches von ihr verlangt. Wenn sie wieder im Orchard-Haus auftauchte, würden Toby und Dorothy sie einfach abermals fortschicken.
Pare war lange sehr krank. Die Jahreszeiten kamen und gingen, und sie wurde immer dünner.
Es war ihre Mutter, die schließlich begriff, wie krank sie war, und sie fragte Pare, ob es irgendetwas in ihrem Leben gebe, das diese tödliche Krankheit verursacht haben könnte. Als Pare ihr von dem Schwarzbuchenklotz und von der Stimme erzählte, die sie (vor inzwischen sehr langer Zeit) gehört hatte, legte ihre Mutter ernst die Hände aneinander. Dann hüllte sie Pares Schultern in einen mit Kiwischwanzfedern bestickten weichen Umhang, ein altes Erbstück ihres Stammes. Sie gab ihr eine Kalebasse mit Wasser und sagte, sie solle zur Orchard-Farm zurückkehren.
Als Pare endlich das Haus in der Ferne erblickte, versteckte sie sich im stacheligen Toi-Toi-Gras und wartete. Um sie herum seufzte der Wind. Sie hörte Schafe blöken und einen Collie bellen.
Von dort, wo sie kauerte, konnte sie die Veranda sehen und sogar die Stelle erkennen, wo Edwins Wiege gestanden hatte, bevor der Wind Pare erschreckte. Aber jetzt war die Veranda verlassen, und sie stellte sich vor, dass Dorothy und Toby irgendwo im Haus waren, die Wände anstarrten und kaum noch ihren Pflichten nachkamen, weil ihnen jede Begeisterung hierfür fehlte, seit sie sich in die Trauer über ihren toten Sohn vergraben hatten.
Pare schlang die dünnen Arme um ihre knochigen Knie. Sie war inzwischen leichter als ein Kind, ohne irgendwelche weichen Fleischpolster am Körper. Sie war vierzig, wirkte jedoch älter. Nur ihr Haar, das sie stets ölte und flocht, war immer noch dick und glänzend.
Es fröstelte sie zwischen den Halmen des Toi-Toi-Grases. Sie hüllte sich noch fester in ihren kostbaren Umhang.
Es war Pares Schluchzen, das dem vierjährigen Edwin schließlich den Weg zu ihr wies. Er hatte in seinem Totoki-Baum gespielt und sein Lieblingsspielzeug, eine braune Raupe, an den Zweigen auf und ab spazieren lassen, als er plötzlich ein ungewohntes Geräusch hörte. Pare hatte eine melodische Art zu weinen, und Edwin überlegte, ob da vielleicht der Riesenmoa weinte, weil er nicht mehr fliegen konnte.
Und er dachte, er könnte dem Moa doch vielleicht helfen, indem er seine Flügel anhob oder sonst etwas Nützliches tat (seine Eltern hielten ihn ständig dazu an, »nützliche« Dinge zu tun), und er schnappte sich seine Raupe und lief in dem Matrosenanzug, für den er fast zu groß war, dem Geräusch entgegen. Und als er Pare sah, hatte er keine Angst. Im ersten Augenblick war er enttäuscht, dass er keinen Moa gefunden hatte, doch dieGeschichte von seinem Maorikindermädchen, das den Unfall verschuldet hatte, war ihm so oft erzählt worden, dass er sofort wusste, das musste sie sein.
Sie schaute ihn an, diesen Pākehā-Jungen mit den großen grauen Augen, und breitete ihre Arme aus und sagte seinen Namen: »E’win!«, und ohne zu zögern
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