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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Nase. Seit ihrer Ankunft im Lehmhaus war ihr Glaube an irgendwelche Dinge, die irgendjemand behauptete, ins Wanken geraten. Dabei hatte sie sich bis jetzt für eine gutgläubige Person gehalten … vielleicht nicht unbedingtbis heute. Aber bis zu Rodericks Tod war sie ein gutgläubiger Mensch gewesen. Erst danach wurde sie sehr viel wachsamer, sehr viel skeptischer.
    Eigentlich war das bedauerlich, denn im Grunde gefiel Lilian das Infragestellen von Dingen nicht besonders; die Zeit, als sie noch nicht das Bedürfnis verspürte, alles anzuzweifeln, hatte ihr besser gefallen. Das Leben war einfacher gewesen.
    Aus Hühnerknochen kochte sie Joseph eine Brühe, setzte sich an sein Bett und fütterte ihn, die Suppentasse in der Hand. Er schlürfte die Suppe wie ein Kind und spitzte die Lippen für den Löffel wie für einen furchtsamen Kuss, den ihm jemand aufgezwungen hatte. Doch nach ein paar Löffeln begann er zu würgen und machte plötzlich ein entsetztes Gesicht. Lilian hielt ihm ein Tuch unters Kinn, weil sie glaubte, er müsse sich übergeben, aber er erbrach sich nicht, sondern drehte nur den Kopf zur Seite, und Lilian sah, dass ihn irgendetwas in Panik versetzt haben musste.
    »Was ist?«, fragte sie. »Was ist los?«
    Er schüttelte den Kopf und begann, irgendetwas unter seinem Bettzeug zu suchen. »Joseph, was ist?«, fragte Lilian erneut.
    »Geh weg«, sagte er. »Lass mich. Bitte lass mich allein.«
    »Du musst essen …«, begann Lilian.
    »Nimm alles mit«, sagte er und zeigte auf die Brühe. »Lass mich in Ruhe.«
    Ihr blieb nichts anderes übrig, als seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie nahm die Suppe und das Tuch und wischte ihm noch die Lippen ab, bevor sie ging. Und während sie am Herd auch für sich eine Schale mit der blassen Brühe füllte, sann sie darüber nach, wie groß manchmal die Macht kranker Menschen über die Gesunden war, und dachte, dass Krankheit ja vielleicht bei ihrem Plan, dieser Wildnis zu entfliehen und zu einem geordneten Leben zurückzukehren, noch eine Rolle spielen könnte.
    M eine liebe Mrs Dinsdale. Meine liebe Lily. Ich schreibe Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an meinen so angenehmen Aufenthalt in Christchurch denke und mich bei dem Wunsch ertappe, ich könnte wieder bei Ihnen sein …
    Joseph spürte, wie Tränen aus seinen erschöpften Augen quollen und ihm über das Gesicht liefen.
    Sein Taschentuch mit dem Gold war verschwunden.
    Verzweifelt suchte er unter den Kissen, zwischen den Falten des Lakens, dort, wo er gelegen hatte, und im Ärmel seines Nachthemds. Wie ein Tänzer verdrehte er die Füße und tastete mit gekrümmten Zehen das zerwühlte dunkle untere Ende seines Krankenbetts ab. Dann nahm er alle Kraft zusammen, richtete sich auf, rollte die Decken weg, kniete sich hin und befühlte mit den Händen sämtliche Oberflächen. Schließlich legte er sich auf den Bauch, hielt den Kopf über den Rand der Matratze, und seine tropfenden Tränen hinterließen kleine dunkle Flecken auf dem Lehmboden.
    Während seiner Suche wurde er immer überzeugter, dass in diesem Bach natürlich noch mehr Gold sein musste, wenn er schon dieses hier gefunden hatte, weshalb sein Taschentuch mit dem gelben Staub nicht so wichtig war. Sobald er wieder gesund war, würde er mit dem Durchsieben des Schlamms weitermachen, und irgendwann würde diese kostbare Sache, »die Farbe«, wie die Goldsucher sie nannten, schon auftauchen …
    Trotzdem liefen ihm noch immer die Tränen übers Gesicht. Er weinte um sein verlorenes Geheimis. Er wusste, weder Harriet noch Lilian würde ein Taschentuch mit solch einem Knoten in die Wäsche geben. Sie würden es aufknüpfen und entdecken, was darin war, und damit wäre das Geheimnis gelüftet, das Wissen vom Gold wäre draußen in der großen, gierigen Welt. Danach würde es allen gehören – würde geteilt, gewusst, beredet, gehütet werden. Und das brach Joseph das Herz. Er sah, dass er nun in einer Welt lebte, in der nichts – nicht einmal etwas, das er und niemand sonst gesehen hatte – ihm allein gehörte.
    Erschöpft sank er zurück in die Kissen, zog sich das Federbett über den Kopf und trocknete sich die Augen. Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum rannte er durch die Straßen und Gassen irgendeiner dürftig beleuchteten englischen Stadt und trieb Rebecca vor sich her, stieß sie viel zu grob, hörte nicht auf ihren Protest, wollte ganz zwingend ein bestimmtes Ziel erreichen.
    Er wachte ziemlich

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