Die Farbe der Träume
rief. »Dorothy! Doro!« Die Hündin jaulte.
Eine Standuhr schlug sechs. All das, dachte Lilian, könnte sich auch in Norfolk ereignen, auf einem der großen Güter, wo der arme Roderick ein und aus gegangen war, um Färsen und Pferde zu inspizieren, und wo man ihn niemals zu einem Glas Portwein oder Kognak mit dem Gutsherrn eingeladen hatte.
Sie hörte den vertrauten Südwind, aber hier blies er geduldiger, raschelte nur in den kahlen Ästen der hohen Pappeln, und Lilian lag da, die Nase zur Decke gereckt, und betete, der Wind möge sie in eine Art ewigen Schlaf singen.
Toby Orchard kehrte gut gelaunt nach Hause zurück. Auf der Farm begann gerade die Zeit des Lammens, und jedes Lamm, das er heute untersucht hatte, war lebendig und saugte schon. Toby prahlte häufig damit, dass die Sterblichkeitsrate auf der Orchard-Farm besonders niedrig war, und wenn er auf irgendetwas stieß, das dieser Behauptung widersprach, beunruhigte ihn das außerordentlich – fast als wäre er wieder der kleine Junge, der auf dem Schulhof gequält wird. Doch an diesem Tag war alles in Ordnung, und Toby fühlte sich so, wie es ihm gefiel – als Herr über alles, was sein Auge erblickte. Er hatte allein am Fluss gestanden und seine Pfeife geraucht. Und aus den Tälern hatte das dünne Blöken der neugeborenen Lämmer zu ihm herübergeklungen.
Als er bei seiner Rückkehr erfuhr, dass Harriet und Lilian gekommen waren, beschloss er, zwei Flaschen guten Rotwein zu öffnen, und wies Janet an, sie am Herd zu wärmen. Er warf sich in eine nagelneue Weste, die er vor langer Zeit in London gekauft und nie getragen hatte, weil Dorothy fand, sie »glänzt so grausig«, doch jetzt, entschied er, war sie verdammt genau dasRichtige – weil seine Lämmer gediehen, weil drei Frauen an seinem Tisch sitzen würden anstatt nur eine und weil der Frühling begonnen hatte.
Dorothy bemerkte Tobys Stimmung, diese etwas überbordende Selbstgefälligkeit. Sein Gehabe amüsierte sie, ärgerte sie aber auch. Sie fand es kindisch und albern und hoffte, es würde sich bald legen, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass Glück etwas sehr Flüchtiges ist und dass Toby Orchard ein guter Mensch war, und so gönnte sie es ihm.
Während des Abendessens beobachtete sie ihn aufmerksam, allerdings so unauffällig, dass er es nicht merkte. Sie sah, wie er sein Glas füllte und wieder füllte, wie er seine lächerliche gelbe Weste vorne glatt strich. Und sie sah, wie er seinen Charme auf Lilian Blackstone wirken ließ, wie ihr strenges Gesicht nach einer Weile weichere Züge annahm und ihre Hände, die anfangs nervös mit dem Besteck gespielt und das Weinglas hin und her geschoben hatten, endlich ruhig wurden.
Sie unterhielten sich gerade über die englische Landwirtschaft, als sich diese Veränderung an ihr vollzog. Lilian hatte das anstrengende Leben ihres verstorbenen Mannes, des Viehauktionators, zu beschreiben begonnen, als Toby sagte: »Ach, ein Viehauktionator. Das sind ja nun Menschen, für die ich die größte Bewunderung hege.«
Lilians ungläubiger Blick traf Toby wie ein Geschoss, aber ohne sichtbar zusammenzuzucken, fuhr er mit lauter, jovialer Stimme fort: »Als kleiner Junge habe ich sämtliche Ferien auf der Farm meines Großvaters verbracht und war immer ganz begeistert, wenn ich mit auf die Viehauktionen durfte. Denn dort hörte ich eine neue Sprache, die ich zuerst gar nicht verstand, aber ich wusste, dass die, die sie sprachen, sehr klug waren.«
»Nun ja«, sagte Lilian und legte ihren Dessertlöffel sorgfältig parallel neben ihren Untersetzer, »es ist einfach eine Sprache in Kürzeln, mehr nicht.«
»Nein«, sagte Toby, »es ist die Sprache der Mathematik, eine wissenschaftliche Sprache.«
»Ist ›wissenschaftlich‹ nicht vielleicht ein zu großes Wort?«
»Ganz und gar nicht«, sagte Toby. »Es ist absolut kein zu großes Wort. Der Auktionator muss doch rasend schnell die erwarteten und die tatsächlich abgegebenen Angebote vorsingen und gleichzeitig jede einzelne Sehne des Tiers preisen, das er gerade vor sich hat. Und wie kann er das? Nur mit wissenschaftlicher Kenntnis.«
»Roderick wäre geschmeichelt gewesen, wenn man ihn einen ›Wissenschaftler‹ genannt hätte«, sagte Lilian.
»Aber nach kurzer Überlegung hätte er es zweifellos für angemessen gehalten. Wir alle unterschätzen das Wissen, über das wir verfügen, denn mag es auch hart gewesen sein, es zu erwerben, sobald wir es besitzen, kommt es uns so natürlich vor, als
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