Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
einen anderen mit Wordsworth-Gedichten und eine Weltkarte. Dann war da noch ein ledergebundenes Angelbuch mit handschriftlichen Einträgen von Joseph. Die meisten klangen enttäuscht: »Schlechte Saison«. »Wenig Wasser im Fluss«. »Eiskalt«. »Keine Fliegen«. »Fische sehr wählerisch«. Es gab auch eine kleine, verzierte Pistole in einem Holzkästchen, und die musterte Harriet lange, spähte sogar in den Lauf, ob irgendetwas darin versteckt lag.
    Ganz unten in der Truhe lagen Josephs Angeln und in einem kleinen Setzkasten mit Glasdeckel seine handgefertigten Fliegen, alle einzeln beschriftet und in einem eigenen Fach: Iron Blue, Sawyer Nymph, Streamer . Harriet öffnete den Deckel des Kästchens und schaute sich die Köder an, die für einen englischen Fluss gedacht waren und die für Fische in Aotearoa vielleicht gar nicht taugten. Trotzdem fand Harriet sie raffiniert in ihrer Nachahmung echter Insekten und auch merkwürdig schön. Sie wollte die Fliegenkiste schon wieder zurückstellen, als sie bemerkte, dass in einem der winzigen Fächer kein Köder lag, sondern eine menschliche Haarlocke. Sie nahm die braune Locke in die Hand und starrte sie an: ein Erinnerungsstück, das Joseph so kostbar war, dass er es in dem Köderkästchen versteckt hatte, um es nach Neuseeland mitzunehmen.
    Harriet stockte der Atem. Sie überlegte, ob sie die braune Locke verbrennen sollte, so wie sie ihr eigenes Haar verbrannt hatte – einfach, um Joseph zu strafen, um ihm zu zeigen, dasssie sein Geheimnis kannte. Aber eigentlich kannte sie es ja gar nicht und wollte es auch nicht kennen . Sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als die Locke wieder dorthin zurückzulegen, wo sie sie entdeckt hatte.
III
    Die Besitzer der Teestube waren bereit, Lilian für die Nacht aufzunehmen, erklärten aber, ihre drei Gästezimmer seien schon belegt, und sie würde mit dem Salon hinter der eigentlichen Teestube vorliebnehmen müssen.
    Der Salon war dunkel und beengt und enthielt kaum mehr als eine Anrichte und ein kleines Sofa, dessen schlechte Polster so mürbe aussahen, als würden sie bei der ersten menschlichen Berührung reißen. Lilian malte sich aus, wie die Federung dieses lächerlich ausgestopften Dings sie die ganze Nacht lang hin und her schleudern würde, so dass sie nicht zur Ruhe käme. Ihrer Brust entrang sich ein tiefer, schaudernder Seufzer. Der Tag war schlimm gewesen: die lange Reise in dem kleinen Karren, dann die furchtbare Begegnung mit Mrs Dinsdale … und jetzt sollte die Nacht nicht minder entsetzlich werden.
    Doch ihr blieb keine andere Wahl. Man hatte ihr erklärt, sämtliche Zimmer in Christchurch seien von Personen belegt, die auf ihre Überfahrt mit der Wallabi nach Nelson und zur Westküste warteten. Die Leute schliefen an Orten, die kaum Zimmer zu nennen waren. Sie kamen in Ställen und Lagerhallen unter, auf Dachböden und in Kämmerchen, in Kellern und Pumpenhäuschen und Kneipen. Bei der Erwähnung von »Pumpenhäuschen und Kneipen« fächelte Lilian sich mit ihren Handschuhen Luft zu und ließ ihre Wirtin wissen, dass sie das Angebot des scheußlichen Sofas gern annehme. »Zum Glück«, sagte sie, »bin ich nicht sehr groß. Mein Mann war groß«, fügte sie aus keinem ersichtlichen Grund hinzu (Roderick Blackstone war nicht einmal besonders groß gewesen), »aber ich nicht.«
    Joseph kaufte einen Sack Heu für den Esel, aß dann mit Lilian und den Teestubenbesitzern zu Abend und ließ sich, als handelte es sich um ein Exponat, das als Leihgabe für eine Ausstellung im Heimatmuseum gedacht war, das seidene Federbett zeigen, unter dem seine Mutter nachts ruhen würde.
    Das Abendessen war mager und bestand aus kalten Hammelkoteletts und Essiggurken, und Joseph brach mit leidlich gefülltem Magen auf und ging in die Nacht hinaus. Der Esel stand auf der Straße zwischen den Zugriemen des Karrens und kaute kummervoll sein Heu.
    Joseph wanderte so, wie sie hereingekommen waren, wieder aus der Stadt hinaus, nur jetzt in nordwestlicher Richtung nach Okuku. Er wollte nicht zwischen all die Möchtegern-Goldsucher geraten, die auf dem Weg nach Lyttelton waren. Er wollte auf keinen Fall, dass jemand ihm erzählte, im Hokitika-Fluss warte das Gold in wundersamen Mengen, wollte nicht hören, wie das Leben der Menschen sich verändern und Reichtümer sich anhäufen würden; er wollte allein sein und in Ruhe seinen eigenen Träumen nachhängen.
    Unterwegs überfiel ihn eine entsetzliche Müdigkeit. Seine Füße

Weitere Kostenlose Bücher