Die Farbe der Träume
mittrieb, starrte Will so lange darauf, bis es verschwunden war. Dann begann er, Joseph von den zwei Jahren zu erzählen, die er bei einem Beerdigungsunternehmer in Queenstown gearbeitet hatte.
»Was ich da tun musste«, sagte er, »war die schlimmste Arbeit von der Welt. Ich musste mit einem Schlauch das eklige Zeug aus dem Bauch der Toten saugen und die Chemikalien reinpumpen.« Er sagte: »Soll ich Ihnen verraten, was ich denke, Mister Blackstone, ich denke, ein lebendiger Mensch ist zu neunzig Prozent tote Materie, und nur ein winziger Funke in uns hält den Rest am Leben.«
Und als wieder eine Gischtwolke heranstob und sie zum hundertsten Mal durchnässt wurden, murmelte er: »Ich hab das Gefühl, ich bin tot, Mister Blackstone. Durch und durch tot.«
Joseph drängte den Jungen, unbedingt durchzuhalten, denn das sei alles, was man tun könne, weiter am Leben bleiben. Entweder würde die Wallabi von den Wellen verschlungen, und sie ertränken alle, und ihre Leichen würden gegen die harten Wurzeln des ufernahen Buschlands geschleudert, oder die Schaufelräder drehten sich weiter und kämpften sich zentimeterweise durch die tobende See, bis sie die Mündung des Grey-Flusses passiert hätten und der flache Landstrich der Hokitika-Ebene sie willkommen hieß.
Doch als Joseph den Blick über die grüne Endlosigkeit der Küste schweifen ließ, dämmerte ihm zum ersten Mal, dass die Goldsuche in einer solchen Wildnis an Mühsal alles überstieg, was er sich jemals hatte vorstellen können. All seine Schwierigkeiten beim Bau des Lehmhauses – das Kleinschneiden von Tussockgras, das Anmischen des Lehms – erschienen ihm nichtig, verglichen mit dem, was ihm hier abverlangt werden würde. Und vielleicht war Gold ja überhaupt das Einzige, was Menschen an einen Ort zu locken vermochte, an dem die Natur so unmissverständlich ihre Verachtung für alles zeigte, was nicht für ein Dasein in der Dunkelheit des Waldbodens oder in den hohen Ästen der Schwarzbuchen taugte.
Zum Jungen sagte Joseph: »Und wie willst du diese endlosen Kilometer Buschland überstehen, Will?«
Will sah zu den Bergen hoch. Er ließ den Blick einen Moment auf den Gipfeln ruhen und schaute dann in den Himmel darüber, wo hin und wieder ein Vogel zu sehen war, der gemächlich seine Kreise zog. Seine Miene änderte sich nicht. »Genau wie am Arrow«, sagte er. »Ich tu, was ich tun muss. Halte den Mund. Wasch mir den Arsch im Fluss.«
Krankheit suchte das Schiff heim, Männer würgten und erbrachen sich, und einige heulten wie Hunde in ihrem Elend und ihrer Angst. Und die meisten dachten wohl in diesen endlosen Tagen, dass keine Waschpfanne voll Gold das Grauen wettmachen konnte, das sie erleiden mussten, seit das Schiff auf Südkurs gegangen war. Sie wünschten sich nach Christchurch zurück oder wo immer sie sonst hergekommen waren. Sie sehnten sich nach Wärme und Ruhe und einem geschützten Platz zum Schlafen. Sie fanden es schwierig, in der Salzluft zu atmen. Sie beklagten sich, niemand habe sie gewarnt, dass es an der Westküste nichts als Berge gab – Berge an Land und Berge aus dunklem Wasser, die sich im Wind vor einem dunklen Himmel auftürmten.
Auch Joseph wurde seekrank. Während er an die Reling geklammert würgte, fühlte er sich in seiner Schwäche an das Fieber erinnert, das am Nachmittag seines ersten Goldfundes ausgebrochen war. Damals hatte sein Körper schnell kapituliert, und er hatte sehr lange gebraucht, bis er wieder gesund war. Jetzt legte er sich einfach auf dem Achterschiff nieder, und Will breitete seine Decke über ihm aus. Joseph war dankbar für diese kleine Freundlichkeit, und es gelang ihm, trotz des schneidenden Winds einzuschlafen.
Stunde um Stunde kämpfte sich die Wallabi vorwärts, umrundete ein zweites Kap, ließ die Mündung des Grey hinter sich, und endlich entdeckten die Passagiere jene Veränderung der Küstenlinie, auf die sie so sehr gewartet hatten. Es war, als hätten sich nun auch die Berge bewegt, denn alles veränderte sich jetzt von einem Augenblick auf den anderen; die Berge traten beiseite und gaben den Blick frei auf eine Ebene mit Buschland und einem langen grauen Strandstreifen.
Und nun wurde der Dampfer langsamer und drehte bei. Joseph erwachte. Er fühlte sich gestärkt, stand auf und sah, dass sie auf die Küste zuhielten. Nach und nach kam der Stranddeutlicher in Sicht. Will zauberte einen alten Ingwerkeks aus seiner Tasche und schenkte ihn Joseph, und der aß ihn dankbar, froh über
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