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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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geisterhaft. Und eine einzelne Träne schlängelte sich durch die Puderschicht seine Wange hinab. Er wischte sie weg.
    »Soll ich dir erzählen, was mir passiert ist?«, fragte Harriet sanft.
    »Ist es etwas Schlimmes?«
    »Das weiß ich noch nicht. Es hat mit Joseph zu tun. Er ist fortgegangen, um nach Gold zu suchen.«
    »Zur Westküste?«
    »Ja.«
    »Papa hat gestern gesagt: ›Die Westküste ist ein einziger schrecklicher Wahnsinn.‹ Aber ich weiß nicht, was er damit meint. Manchmal sagt er: ›In dem, was du da rechnest, steckt ein schrecklicher Wahnsinn, Edwin.‹«
    Harriet streichelte ihr Pferd, entwirrte eine zottige Strähne in seiner Mähne.
    »Vielleicht meint dein Papa, dass all diese Dinge schwer zu verstehen sind.«
    »Gold ist nicht schwierig«, sagte Edwin. »Man nimmt eine Pfanne, füllt sie mit Schlamm und Wasser und schwenkt sie herum, und alles fällt raus außer dem Gold. Das hat Mama mir erklärt.«
    »Ja. Aber manchmal bleibt kein Gold in der Pfanne übrig, wenn der Rest herausgefallen ist.«
    »Dann ist es ja sinnlos.«
    »Es ist so wenig sinnlos wie zum Toi-Toi-Gras zu gehen und nach Pare zu rufen. Hundert Tage lang ist vielleicht niemand da, und hundert Tage lang ist vielleicht auch kein Gold in derPfanne. Aber am hundertersten Tag … da erscheint sie plötzlich.«
    Edwin blickte Harriet feierlich an. Nach einer Weile sagte er: »Dann fange ich jetzt an zu zählen.«
    Sie saßen am Fluss, und die Sonne schien aufs Wasser. Die Tauben waren zart und schmeckten irgendwie erdig, wie Pilze oder wie feuchtes, totes Holz. Der Wein, den Dorothy aus Tobys Vorräten stibitzt hatte, war lieblich und kühl.
    Während Edwin mit seinen beiden Hunden Mollie und Baby am Wasser spielte, beschäftigte Dorothy die Frage, was es eigentlich hieß, Reichtum in der Erde zu finden. Sie sagte: »Ich habe ebenso wenig wie Toby das Recht, Menschen zu kritisieren, die es zu den Goldfeldern zieht. Mein Vater besitzt eine Zinnmiene, und fast alles, was wir hier haben aufbauen können, kommt von diesem Geld … diesem Zinn-Geld. Der Zufall hat es so gewollt. Aber für die Männer, die in der Miene meines Vaters arbeiten … für die ist jeder Tag hart. Ich habe gesehen, wie sie im kalten englischen Winter bis zu den Knien in diesem eisigen, rötlichen Wasser standen. Und in den Sümpfen und den Schluchten hier an der Westküste ist es bestimmt auch sehr hart.«
    Harriet stützte sich auf ihre Ellbogen und blickte in den Himmel. Sie fühlte sich noch etwas steif von ihrem Ritt. »Joseph fürchtet sich nicht vor harter Arbeit«, sagte sie.
    »Nein, das weiß ich«, erwiderte Dorothy. »Es war doch sicher extrem anstrengend, Ihr Haus aus Lehm zu bauen. Ich frage mich nur, wieso er ausgerechnet jetzt loszieht, wo es so viel auf Ihrer Farm zu tun gibt.«
    Harriet begann, von ihrem Flüsschen am Haus zu erzählen, und dass Joseph dort nach Gold gegraben habe. Sie sagte: »Er fing schon an, von Gold zu träumen. Er konnte nicht davon lassen. Und wenn Joseph etwas haben will, dann versucht er, es sofort zu bekommen. Er kann nicht warten. Das scheint einfach seine Art zu sein.«
    Dorothy versicherte ihr, das verstehe sie. Und dann meinte sie, das menschliche Leben fliege viel zu schnell durch Raum und Zeit, »zu Vieles entgleitet einem, man lässt es für immer hinter sich zurück«. Und dann hetze man hierhin und dahin und versuche, die entglittenen Dinge doch noch einzufangen. Während Harriet zuhörte, musste sie an die braune Locke in Josephs Köderkästchen denken und an die Person, der diese Locke gehört hatte, wer immer sie sein mochte, an diese Person, die zurückgelassen worden war.
    Sie blickte zu Dorothy hinüber, die, offenbar völlig uneitel, ohne einen Gedanken an mangelnde Eleganz zu verschwenden, immer noch ihren alten Hut trug und die Beine unter ihren verschmutzten Röcken hervorstreckte. Und Harriet glaubte, in dieser Frau eine echte, verschwiegene Vertraute gefunden zu haben. Sie holte tief Luft und sagte: »Joseph ist aus England geflohen. Wegen der Schulden seines Vaters, aber nicht nur deswegen. Ich glaube, da war noch etwas anderes. Etwas, worüber er nicht spricht.«
    Dorothy griff nach ihrem Weinglas. Sie war eine Frau, die den Wein liebte und jeden einzelnen Schluck für eine herrliche Gabe Gottes hielt. Nachdem sie eine Weile geschwiegen und mit großem Vergnügen den Wein gekostet hatte, sagte sie: »Ich bin nie davon ausgegangen, dass Männer keine Geheimnisse hätten. In Tobys Kulturtasche habe

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