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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich einmal eine Postkarte gefunden, auf der stand: Mit zärtlichsten Grüßen aus Scarborough. Die Unterschrift konnte ich nicht entziffern, die Handschrift war unleserlich. Aber es war eine Maud oder Mabel oder so ähnlich. Das gab mir einen richtigen Stich ins Herz. Doch dann dachte ich: Was sagt das denn? Wir können doch nicht so tun, als würde das Leben der Männer in dem Augenblick beginnen oder enden, wo wir sie heiraten – unseres tut es doch auch nicht. Wir können nur hoffen, dass sie nichts allzu Verletzendes getan haben.«
    Harriet zupfte am Gras. Der Appetit auf den Käse, der neben ihnen im trockenen Tussockgras lag, war ihr vergangen.
    »Und wenn doch etwas Verletzendes geschehen ist?«
    Unter dem Schatten ihres Huts sah Dorothy sie scharf an. »Dann wird es wahrscheinlich irgendwann ans Licht kommen, weil Dinge selten für immer verborgen bleiben. Aber Sie sollten jetzt keine Märchen von großen Sündern erfinden, Harriet. Ich bin sicher, Joseph Blackstone ist ein guter Mensch.«
VI
    Joseph versuchte, auf dem windigen Deck der Wallabi zu schlafen. Neben ihm lag der Junge mit der Flöte, der Will Sefton hieß und mit dem Kopf auf einem zusammengerollten Tau schlief. Jetzt konnte Joseph die Löcher in den Sohlen von Wills Stiefeln sehen. Er holte eine alte Wolldecke aus seinem Bündel und deckte den Jungen damit zu. Irgendetwas an Will Sefton erinnerte ihn an Rebeccas Bruder Gabriel, und nachdem er Will eine Weile betrachtet hatte, blickte er weg.
    Nicht weit von Josephs Platz kochten zwei Chinesen im Windschatten der Schiffsaufbauten Reis auf einer winzigen Spirituslampe. Die zarte blaue Flamme gab sicherlich kaum Wärme ab, und sie irritierte und beschäftigte ihn. Er konnte einfach nicht wegsehen und wollte schon beinah zu den Männern hinübergehen, um sie zu fragen, ob er sich die Hände daran wärmen dürfte. Er würde ihnen zu erklären versuchen, dass das alles war, was er wollte, dass er nicht um Reis betteln, sondern nur seine halb erfrorenen Hände aufwärmen wollte, um einschlafen zu können.
    Die Chinesen flüsterten miteinander in ihrer Sprache, die für Joseph wie ein Dialog von Trommeln klang; als hätten beide ein Instrument und schlügen darauf einen seltsamen und überraschenden Rhythmus. Joseph sah und hörte zu. Er roch, dass der Reis allmählich gar wurde. Im Schein der kleinen Flamme sahen die Gesichter der Männer weder heiter noch traurig aus,sondern hatten etwas außerordentlich Ergebenes. Als hätte die Welt sie furchtbar gequält und das schon so lange, dass sie sich nicht mehr die Mühe machten, sich dagegen zu wehren, sondern es einfach geschehen ließen, so wie man eine lästige Mücke oder Fliege irgendwann nicht mehr verscheucht.
    Joseph musste an Mrs Dinsdale denken, die einmal von einer chinesischen Familie erzählt hatte, die in ihrer Nähe eine Gärtnerei betrieb und die sie »die Himmlischen« nannte. Gefragt, wieso sie auf diesen Namen gekommen sei, hatte sie geantwortet: »Der stammt nicht von mir, der ist hier allgemein üblich. Der Chinese hat nämlich den Kopf im Himmel, was von dem Opium kommt, das er raucht. Daher auch der Name. Denn sonst ist wirklich nichts Himmlisches an denen, auch wenn sie ihren Kaiser für göttlich halten. Sie sollen irgendwie degeneriert sein, habe ich sagen hören. Und ich für mein Teil würde bestimmt zweimal überlegen, ehe ich einen Salat von denen kaufe. Man weiß doch gar nicht, was da auf den Blättern lauert.«
    Auf der Wallabi schienen die zwei Männer, die Joseph jetzt so aufmerksam beobachtete, erst mit der Dunkelheit sichtbar geworden zu sein. Sie waren barfuß, aber warm in wattierte Jacken verpackt. Sie hatten mit Sicherheit keine Kabine und mussten die ganze Zeit oben an Deck gewesen sein, aber Joseph hatte sie nicht bemerkt. Es war, als hätte niemand sie bemerkt. Doch jetzt waren sie da, mit ihrer Lampe und dem heißen Reis, hockten still beieinander, während die Männer um sie herum ihnen den Rücken zukehrten und tranken oder schnarchten.
    Joseph fragte sich, wie die Chinesen in dieser Welt der Goldgräber mit ihrer Enge und ihrem Konkurrenzdruck überleben würden. Sie verkörperten für Joseph eine Art Tugend der Geduld, um die er sie beneidete. Er wusste, mit welch brennender Ungeduld, welch gieriger Erwartung er selbst dem Gold entgegenfieberte. Und gleichzeitig war er überzeugt, dass ebendiese Leidenschaft ihn Enttäuschungen und schlechtes Wetter würde ertragen und so lange durchhalten lassen, bis er

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