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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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»sich was einfallen lassen«.
    In Lilians Kopf entstanden fantastische Lösungen: Wände aus Stein, die auf wundersame Weise um den Lehm hochwuchsen und ihn einschlossen; ein irgendwie an den Lehmwänden angebrachter massiver Holzrahmen, auf den Totara-Bretter aufgenagelt waren … Doch sie wusste, dass sie weder an derlei Materialien kamen noch eine Säge zum Bretterzuschneiden oder einen schweren Hammer zum Steineklopfen besaßen. Und schließlich waren sie Frauen, sagte Lilian Blackstone sich. Ihre Kräfte hatten Grenzen.
    Dann fiel ihr eines Nachts jener Herbst in Norfolk ein, als das Hochwasser kam und Roderick einen Wall aus Sandsäcken gebaut hatte, der ihre Haustür gegen das Wasser schützen sollte. Sie sah alles ganz deutlich vor sich: Wie Roddy geduldig einen Sack nach dem anderen füllte und die Säcke dann in einer Art Flechtmuster so hoch übereinander stapelte, dass sie fast bis ans Fenster reichten. Stunden um Stunden mühseligster, aberabsolut erfolgreicher Arbeit, denn all ihre Teppiche wurden gerettet, und ihre Fußmatte war damals die einzige in Parton Magna, die trocken blieb.
    »Säcke«, verkündete sie Harriet am nächsten Morgen. »Haben wir nicht lauter leere Säcke verschiedenster Größe – Mehlsäcke, Kartoffelsäcke und so weiter? Die füllen wir mit Sand und drücken sie fest gegen die Wand an der Kaminseite, und zwar so hoch, wie wir können.«
    Harriet dachte darüber nach und sagte: »Aber wo finden wir Sand, Lilian?«
    »Am Bach!«, erwiderte Lilian triumphierend. »Die Hügel, die Joseph da hinterlassen hat, sind doch nichts anderes als Haufen aus Kies und Sand.«
    Harriet ging selten dorthin. Für sie wirkte der Ort wie eine Landschaft der Toten, als wären die Hügel Gräber, als würden dort Knochen in der Erde liegen. Was sie dort sah, war Josephs verschwiegene Seele.
    »Das ist eine gute Idee, Lilian«, sagte sie, »aber ich fürchte, es ist nicht das richtige Material.«
    Dann würde sie eben allein darangehen, beschloss Lilian. Sie würde das Lehmhaus retten. Und sie würde schon am nächsten Morgen, noch bevor Harriet aufwachte, damit beginnen. Wenn der Regen bis dahin aufgehört hatte, umso besser, dann wäre die Arbeit fast vergnüglich, und wenn nicht, würde sie halt nass werden, aber es würde ihr nichts ausmachen. Sie würde so tun, als gehörte sie zur Fußtruppe in der Schlacht von Waterloo. Sie würde so lange ausharren, bis der Sieg errungen war.
    Der Morgen war trocken, aber sehr kalt, und es fiel Lilian schwer, sich die vergangenen heißen Tage vorzustellen. Sie band sich ein Tuch um den Hals, setzte ihren Leinenhut auf und machte sich bei Sonnenaufgang mit einer Schubkarre, einer Schaufel und einem Stapel Säcke auf den Weg zum Bach.
    Sie begann mit der Arbeit. Der Regen hatte die Kieshaufenaufgeweicht, und sie wusste, dass dieser steinige Schlamm schwerer als Sand war. Sie beschloss, den jeweils zu füllenden Sack an zwei Nägeln vorne an die Schubkarre zu hängen und, wenn er schwerer wurde, als Gegengewicht Steine hinten in die Karre zu legen. Wenn er dann voll war, würde sie ihn in die Schubkarre hieven. Das war Wissenschaft, dachte sie stolz. Das war ein System .
    Gegen acht Uhr kehrte sie ins Lehmhaus zurück, um mit Harriet Hafergrütze zu essen. Sie erzählte ihr, sie habe einen herrlichen Morgenspaziergang auf der Hochebene gemacht. In Wahrheit hatte sie fünf Säcke gefüllt. Schmerzschauer jagten ihr die Wirbelsäule hinauf, aber die erwähnte sie nicht. Während sie sich Milch über die Grütze goss, ertappte sie sich bei dem Wunsch, noch die Knochen des jungen Mädchens zu besitzen, das sie einst gewesen war, als sie im Handstand hintereinander fünf Runden durchs Kinderzimmer drehen konnte. Sie müsste eben beides sein, beschloss sie, halb Infanterist, halb das zehnjährige Mädchen, dessen Zehen zur Decke zeigten und dessen weißes Höschen ihm die Beine hinunterrutschte.
    Sie brach wieder auf, angeblich, um ihren Spaziergang fortzusetzen. Harriet würde den ganzen Morgen mit den Tieren zu tun haben. Lilian hoffte, dass die Schmerzen im Rücken bald nachließen, denn jetzt musste sie die Schubkarre zum Haus hinaufschieben und die Säcke in einem sorgfältigen Muster um den Kamin aufbauen, genauso, wie Roderick sie damals vor der Tür in Parton Magna aufgeschichtet hatte. Und sie malte sich aus, wie Harriet Joseph bei seiner Rückkehr erzählen würde, dass sie, Lilian, ganz allein das Haus mit ihrer »Sack-Kunst« gerettet hatte, und es würde

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