Die Farbe der Träume
dann andere, tröstende, drängende Stimmen und das Knarren eines Holzbetts und einen Hustenanfall und dann wieder: »Lucas, komm endlich her.«
Harriet stand auf und rief leise: »Dr. Pettifer?« Doch im Grunde erwartete sie nicht, dass man sie hörte. Und sie wusste auch, dass sie das Zimmer, wo die Frau in ihren Wehen lag, nicht betreten durfte. Sie war eine Fremde und hatte kein Recht, dort zu sein.
Sie setzte sich wieder und nahm, zu ihrer eigenen Beschämung, ein Stück Brot von einem Teller auf dem Tisch und steckte es in den Mund. Sie griff nach einer eingelegten Zwiebel und aß sie, und dann überfiel sie mit einem Mal ein maßloser Wolfshunger, und sie konnte nicht an sich halten und aß sämtliche Reste auf, die da vor ihr lagen: Brot, Käse, Zwiebeln, fette Schinkenscheiben, den Rest schwarzen Rübensirup in einem Löffel. Und während sie aß, hörte sie die ganze Zeit aus dem Nebenzimmer die Stimmen und das Husten und die kurzen Weinanfälle und das Rufen nach Lucas und das Ächzen des Holzbetts auf dem Steinfußboden. Und es war, als lieferte sich ihr Hunger ein Wettrennen mit der Geburt des Babys, und wenn es zu früh geboren wurde, würde er nie gestillt werden.
Die Suche nach einem Arzt für Lilian hatte mit einem Mal alle Dringlichkeit verloren, stellte Harriet erstaunt fest. Sie schien wie ausgelöscht durch ihr entsetzliches Bedürfnis, Nahrung zuverschlingen. Sie schämte sich zwar für jeden einzelnen Bissen, aß aber trotzdem weiter, bis nichts mehr auf den Tellern war, und dann wischte sie sich den Mund und blickte zu der Uhr an der Wand über den Kaffeesäcken und merkte, dass um sie herum sich die Nacht verdichtete, gegen die Fenster drückte und die Farben der Kerzenflammen veränderte.
Gegen ein Uhr früh erreichte sie, zusammen mit dem recht betagten Dr. Pettifer, das Lehmhaus. Sie zündete eine Lampe an und führte ihn in Lilians Kattunzimmer. Sofort winselte Lady los und sprang wie wild an Harriets schmutzigem Rock hoch. Der schwarze Mantel des Arztes roch leicht nach Jod und Äther.
Lilian lag noch genauso da, wie Harriet sie verlassen hatte, ordentlich ausgestreckt und mit dem Handtuch um den Kopf. Einen Arm hatte sie allerdings gehoben und auf ein Kissen gelegt, und in der Hand hielt sie den Stopfpilz, wie um seine Nützlichkeit oder seine im Licht schillernden Farben zu zeigen. Als Dr. Pettifer die Hand nahm, um den Puls zu fühlen, fiel der Stopfpilz auf den Boden, und Harriet sah, wie der Zettel, mit dem sie ihn eingeschlagen hatte, hinterhersegelte. Als Harriet sich bückte, um den Pilz aufzuheben, öffnete Lilian ein Auge.
»Lilian«, sagte Harriet und beugte sich über sie. »Lil?«
»Sie kann Sie nicht hören«, sagte Dr. Pettifer, der jetzt Lilians Arm sanft neben ihren Körper auf das Bett gleiten ließ. »Sie ist so tot, wie man nur sein kann. Ich würde sagen, sie starb vor zwei Stunden.«
»Aber sie hat doch ihr Auge geöffnet …«
»Beide Augen öffnen sich normalerweise im Tod, außer wenn noch ein wenig Augenschleim vorhanden ist und das Lid festklebt – und das scheint mir hier in ihrem rechten Auge der Fall zu sein. Ich würde schätzen, dass der Tod um elf Uhr eintrat.«
Harriet musste daran denken, dass genau um die Zeit das Baby, ein Junge, im Hinterzimmer von Parson & Co geboren worden war, und wie der Vater des Kinds, auf der Suche nachSchnaps, im Laden erschien und Harriet dort noch am Tisch saß. Er hatte sich nicht überrascht gezeigt, fast als habe er erwartet, in dieser Nacht der Geburt seines Sohns Fremde dort vorzufinden. Das gestohlene Essen wurde mit keiner Silbe erwähnt, aber Harriet fing plötzlich an zu erzählen, ihre Schwiegermutter habe versucht, eine Wand aus Säcken zu bauen, und sei dabei umgefallen.
»Eine Wand aus Säcken?«
»Gefüllt mit Kies und Sand. Um den Regen fernzuhalten.«
»Ah ja.« Der Mann lächelte, während er nach der Schnapsflasche griff.
»In Neuseeland kann man den Regen nicht fernhalten«, sagte er.
Jetzt stand Harriet auf und blickte Lilian an. Sie streichelte die Hand, die den Stopfpilz gehalten hatte. Sie dachte an das Palmblattkreuz, das Lilian an die Wand ihres Zimmers bei Mrs Dinsdale genagelt hatte, und an das weiße Umschlagtuch, das immer für die Nacht bereitlag. Sie sagte zu Dr. Pettifer: »Hätten Sie sie retten können, wenn wir früher gekommen wären?«
Aber Dr. Pettifer füllte schon den Totenschein aus, und er gehörte zu den selbstgefälligen Menschen, die prinzipiell nicht zwei Dinge
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