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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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die ganze Zeit, aber ich möchte nicht dorthin, weil ich Mama und Papa und Mollie und Baby nicht verlassen will, und deswegen muss jemand anders Pare finden und ihr sagen, sie soll zurückkommen, und außer Ihnen weiß doch keiner von ihr.«
    »Aber wie soll ich sie finden?«, fragte Harriet. »Wie kann ich wissen, wo ich suchen soll?«
    »Suchen Sie in den Bergen«, sagte Edwin. »Sie könnten auf Billy hinreiten. Sie haben mir doch erzählt, dass Sie so gern in die Berge möchten.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Bitte, finden Sie den Wasserfall und rufen Sie nach ihr. Sagen Sie: ›Pare, bist du da?‹ Sie wissen doch noch: › Pare, bist du da?‹ «
    Harriet schwieg lange. Schließlich erklärte sie Edwin, dass es nun zwei Menschen gab, die gefunden werden mussten, Joseph und Pare. Und sie versprach, sehr bald herauszufinden, wie das am besten zu bewerkstelligen sei.
III
    Die Orchards überredeten Harriet, wenigstens noch so lange zu bleiben, bis das Wetter sich gebessert hatte. Endlich aber ritt sie zurück zur Okuku-Ebene. Lady lief neben dem Pferd her, die Sonne fühlte sich warm an, und der Wind hatte sich gelegt.
    Während Harriet den südlichen Arm des Bachs überquerte und in das Tal zum Lehmhaus einbog, ging sie im Geiste all die Aufgaben durch, die sie erwarteten. Und dann sah sie es. In gemeinsamer Arbeit hatten Regen und Wind das vollendet, was Hitze und Dürre begonnen hatten: Das Lehmhaus war endgültig zusammengefallen.
    Harriet zügelte Billy, und er wechselte in einen langsamen Schritt, während Lady vorauslief und die seltsamen Dinge anbellte, die sie da sah: rote Blechteile vom Dach, die im Tussockgras lagen; die Haustür, die fast bis an den Bachrand geweht worden war und wie ein Fleischerbeil im Schlamm steckte; dazu all die vielen Meter weißer Kattun, die noch an den Resten der Wände hingen oder das wüste Sammelsurium von Dingen bedeckten, mit denen Harriet und Joseph ihr Eheleben begonnen hatten.
    Harriet stieg ab und näherte sich langsam der absonderlichen Szenerie.
    Es war windstill, und nichts bewegte sich, nicht einmal der Kattunstoff, der hier und da straff gespannt war, weil er noch an Nägeln hing oder sich in Dornen verhakt hatte.
    Und während Harriet Blackstone all das anstarrte, war ihr, als würde sie ein Gemälde des Lebens betrachten, eine zerrissene Leinwand, die ihre Farben im Moment des Reißens nicht hatte festhalten können, sondern das, was einst nur auf die Fläche gemalt war, in den dreidimensionalen Raum geschleudert hatte.
    Und bei dieser Flucht aus den Begrenzungen des Gemäldes, das sie zusammengehalten hatte, mussten die Dinge ihren eigentlichen Zweck wohl vergessen haben. Eines der Eisenbetten stand hochkant, als diene es sich Adlern als Horst an. Kissen lagen überall im Gras verstreut und sahen aus wie Pilze. Scherben von Tellern und Tassen schmückten den Boden wie Blumen.
    Harriet blieb in einigem Abstand stehen. Dorothy Orchard hatte einmal zu ihr gesagt, die Menschen seien dazu bestimmt, sich in der großen Welt stets eine kleine einzurichten, und sie erkannte jetzt, dass Joseph und sie genau das versucht hatten. Sie hatten eine »kleine Welt« für Lilian eingerichtet, mit den Habseligkeiten, die Lilian so selbstverständlich und mühselig von England hatte hierherschaffen lassen. Aber sie hatten diese kleine Welt auch für sich selbst eingerichtet, denn das war alles, worauf sie sich verstanden hatten . Wahrscheinlich würdeder Mensch auch in einer Eishöhle versuchen, ein Feuer zu entzünden, dachte Harriet, und aus den Wänden Stühle und Tische zurechtschneiden. Denn das waren die Dinge des Lebens, mit denen er sich auskannte. Besseres konnte er doch gar nicht tun, wenn er überleben wollte.
    Lady hatte sich wieder zu Harriet gesellt und sah sie fragend an, denn auch der Hund merkte, dass die gewohnte Ordnung der Dinge durcheinander geraten war. Harriet streichelte Ladys Nacken, um sie zu trösten, doch sie fragte sich, woher denn in dieser leeren, flachen Landschaft Trost kommen sollte? Wie sollte man das alles jetzt wieder zusammensetzen? Der Versuch, das Lehmhaus zu retten, hatte Lilian umgebracht. Joseph war weit weg und wusste nichts von alledem. Solange er nicht die Taschen voller Gold hatte, würde er nicht zurückkommen, auch nicht, wenn der Winter begann. Sie war allein.
    Wie zum Hohn meldete sich auch noch eine innere Stimme: Genau diesen Zustand hast du dir doch ersehnt, Harriet – allein zu sein unter freiem Himmel, mit Blick auf die Berge.

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