Die Farben der Finsternis (German Edition)
vor Angst oder Unwohlsein, sondern wegen etwas anderem tief in ihrem Inneren, was sie nicht benennen konnte. Sie rührte sich nicht. Der Mann hatteetwas Fremdartiges. Ein Fremder – sagte ihr Instinkt. Ihre Gedanken waren zur Ruhe gekommen, aber mit den Augen tat sie, wozu sie ausgebildet war. Sie ließ den Blick über seinen ausufernden Körper gleiten: In den blassen Händen, die an den Seiten herabhingen, hielt er keine Poster oder Zettel, also suchte er nicht nach einer geliebten vermissten Person. Der Anzug schmiegte sich eng um seinen rundlichen Körper, und obwohl sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte, wies nichts an seinem Umriss auf eine versteckte Waffe hin. Außerdem waren die drei Knöpfe in der Mitte sorgfältig zugeknöpft, was einen raschen Angriff erschwerte.
Sie beobachtete ihn, während sie ihre Atmung bewusst verlangsamte – das einzige Geräusch in dieser Nacht. Er stand direkt neben einer altmodischen roten Telefonzelle und einen Augenblick lang sahen sie einander über den verlassenen Asphalt hinweg an. Obwohl er offenbar wohlgenährt war, sah er krank aus oder vielmehr so, als wäre eine gewisse Übelkeit ein normaler Zustand für ihn. Er war bleich und die sichtbare Haut im Schein der Straßenlaternen beinahe marmoriert. Der Mann lächelte nicht und sie war zu weit entfernt, um den Ausdruck in seinen dunklen Augen deuten zu können. Sie scharrte mit den Schuhen und brach die Stille.
»Was wollen Sie?«, rief sie ihm zu. Die Worte überraschten sie selbst. Eigentlich hatte sie fragen wollen, ob ihm etwas fehlte, ob er sich verlaufen hatte, aber irgendwie war eine andere Frage dabei herausgekommen, vielleicht aus diesem anderen Gefühl heraus, auf das sie nicht den Finger legen konnte. Sie war sicher, dass er etwas wollte, dieser fremde Mann. Und zwar von ihr.
Er legte einen Finger auf die Lippen. Die Luft um Abigail wurde weicher und setzte sich in ihrer Lunge fest. Einen Augenblick lang gab es nur die Leere, aber dann ginger fort, als hätte er einen Stock verschluckt, bog mit äußerst beherrschten Bewegungen um die Ecke und verschwand in einer düsteren Gasse. Abigail sah ihm nach und erwog, ihm nachzulaufen, aber ihre Füße rührten sich nicht. Ich werde ihn wiedersehen . Der Gedanke schlug kurz Wurzeln, bevor sie ihn wieder vergaß.
Abigail schüttelte sich. Dann spähte sie in die Gasse, doch es war niemand zu sehen. Die Sonderbarkeit dieser Begegnung verebbte in der Nacht, und sie fröstelte, weil der Schweiß auf ihrer Haut trocknete. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, das war alles, nur ein langer Tag, randvoll mit Tod. Sie musste schlafen. Abigail ging das letzte Stück, ohne sich noch einmal umzusehen. Wer dieser Mann auch gewesen sein mochte, er war weg.
In ihrer praktisch, modern und unpersönlich eingerichteten Wohnung machte sie zwanzig Minuten lang Dehnübungen und duschte lange und so heiß, dass das Wasser fast ihre Haut verbrannte. Als sie aus der Dusche trat, war sie von Kopf bis Fuß pinkfarben, aber sie wusste nicht einmal, ob sie die Hitze wirklich gespürt hatte.
Es war zwei Uhr morgens, als sie den Wecker auf 6:30 Uhr stellte und die Augen schloss. Sie schlief rasch ein, ungestört von etwaigen irdischen Belanglosigkeiten und Gedanken. An einem gewissen Punkt ihres kurzen Erwachsenenlebens hatte sie festgestellt, dass ihr Leben zu einem Zeitpunkt leerer wurde, in dem andere sich mit immer mehr Menschen, Familien und Darlehen anreicherten. Seit fast fünf Jahren hatte sie keinen ernst zu nehmenden Freund mehr gehabt, obwohl sie hübsch und sinnlich aussah. Wenn sie Lust bekam, hatte sie Sex, und dabei hatte sie gemerkt, dass es ihr egal war, ob mit Männern oder Frauen. Doch unabhängig vom Geschlecht achtete sie darauf, dass sie niemanden häufiger als zwei-, dreimal traf. Wozu auch?Es waren nur Zufallsbegegnungen; ein Virus, der sich über die Erde ausbreitete. Ein Unfall der Natur, das waren sie alle – auch sie selbst. Es war eben unlogisch, ohne Sinn und Verstand.
Sie wollte ihr Leben allein verbringen. Die Wohnung war gemietet, damit sie kurzfristig verschwinden konnte, wann immer sie wollte, und sie besaß nur das Nötigste, wenngleich in einer teuren Ausfertigung. Das Leben war flüchtig. Man brauchte gar nicht zu versuchen, mithilfe von Dingen einen Anker zu werfen.
Kurz bevor sie die Besinnung verließ, fiel ihr ein, dass sie nicht daran gedacht hatte, sich bei Hayley zu melden und zu fragen, ob sie bei den Angriffen zu Schaden gekommen war.
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