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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Pinborough
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überlastete Justizsystem erst allmählich auf Gerichtsverhandlungen zusteuerte. Andererseits war es ihm eigentlich auch egal, was seine Kollegen von ihm hielten. Er musste nur daran denken, wie Claire May zerschmettert am Fuß der Treppe auf dem Revier in Paddington Green gelegen hatte, und schon freute er sich wieder darüber, dass für einige Leute die Karriere definitiv beendet war. Das hatten sie sich selbst zuzuschreiben.
    »Der Constable unten sagt, es war Selbstmord.«
    Cass blieb stehen und betrachtete eingehend das Bild, das sich ihm bot. »Und warum zum Teufel hast du mich dann um diese scheiß Uhrzeit geweckt?« Er beendete den Satz leiser, als er ihn begonnen hatte. Das tote Mädchen kniete in einer Pfütze ihres eigenen Blutes. Die Arme steckten im Glasbildschirm des Fernsehers und die Pulsadern waren von den Scherben aufgeschlitzt. In der Luft hing ein saurer Hauch von Elektrizität. Cass wusste nicht, wie sie als Lebende ausgesehen hatte, aber tot sah sie kein bisschen hübsch aus.
    »Ich kann mir bessere Selbstmordmethoden vorstellen«, murmelte er.
    »Toll, was?« Der Assistent des Gerichtsmediziners, Josh Eagleton, der neben der Leiche gehockt hatte, richtete sich auf und lächelte Cass an. »Morgen. Gut, dass du kommen konntest.«
    »Schön, dass sich wenigstens einer von uns freut.«
    Eagleton hörte nicht auf zu grinsen und Cass freute sich trotz seiner sauren Miene über dieses fröhliche Lächeln. Eagleton würde vielleicht bis an sein Lebensende humpeln, aber der junge Pathologe hatte Glück gehabt, dass er mit dem Leben davongekommen war, nachdem man ihn überfahren und liegen gelassen hatte. Wenn er trotz der Albträume, die ihn sicher quälten, noch so lächeln konnte, würde es ihm auch langfristig gut gehen.
    »Ich dachte, das wäre was für dich. Ein seltsamer Fall.«
    »Meinst du, es war Mord?« Cass betrachtete das Mädchen genauer. Ihr Kopf war nach vorn gefallen, als ihre Leiche in den Fernseher gesackt war, und die Haare verdeckten ihr Gesicht. Er wollte den Tatort nicht verändern, nur um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. In Romanen und Filmen wurde die Miene des Toten überbewertet. An einem sterbenden Gesicht konnte man nicht so viel ablesen – jeder Mensch starb voller Angst, ob nun durch Selbstmord, Mord oder natürliche Ursachen. Auf dem Gesicht einer Leiche hatte er noch nie etwas anderes entdeckt als den Abglanz dieser Furcht.
    »Kein normaler Mord, nein. Aber irgendwas stimmt hier nicht.«
    »Spuck’s aus, Josh. Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir.«
    »Ach nee, was soll ich denn sagen? Alle Kollegen, die noch japsen können, sind Tag und Nacht in irgendeinemKrankenhaus im Einsatz und setzen die Toten wieder zusammen. Meistens ist es reine Glückssache – wenn ein Körperteil passt, nimmt man es. Das Mädchen hier kann froh sein, dass überhaupt einer von uns da ist.«
    Da hatte der junge Mann recht. Dr. Marsden, der neue Gerichtsmediziner für Paddington und Chelsea, hatte in der Folge dessen, was bereits überall 26/09 genannt wurde, eine Dreifachschicht in einer der Innenstadtkliniken geschoben, und die grausige Arbeit ging weiter. Selbst auf die Menschen, die täglich mit dem Tod zu tun hatten, wirkten die verstümmelten Leichen in den Trümmerhaufen dort, wo die Bomben detoniert waren, verstörend. Cass musterte den Assistenten des Pathologen genauer. Aus den Tränensäcken unter seinen Augen schloss er, dass er selbst mehr als seinen Beitrag geleistet hatte.
    »Stimmt«, sagte Cass. »Aber was ist denn nun an der hier so interessant? Abgesehen von ihrem fantasievollen Abgang?« Er ließ den Blick schweifen. Neben dem Bett lagen Lehrbücher auf dem Boden, die mit einem halben Joint und Tabakresten aus einem heruntergefallenen Aschenbecher bestreut waren. An den Ecken des Spiegels hing billiger Modeschmuck, und die dünne Tapete war mit Fotos und Postern beklebt. Das Zimmer hätte so gut wie jeder Studentin in diesem Land gehören können.
    »Ihr Freund war dabei. Sie hatten sich zusammen einen Film angesehen. Er war eingeschlafen und wurde wach, als sie auf dem Boden zum Fernseher kroch.«
    »Ist der Freund noch da?«
    »Ja, unten. Total fertig, nicht zuletzt durch den Elektroschock, den er abgekriegt hat, als er sie rausziehen wollte.« Eagleton machte eine Pause. »Ich sage ihm lieber nicht, dass sie noch schneller verblutet ist, weil er sie nach hinten gezogen hat.« Er hob seine eigenen schmalen Handgelenkemit den deutlich sichtbaren blauen Adern. »Er zog,

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