Die Farben der Freundschaft
eine beste Freundin. Vor langer langer Zeit.
Wie hoch muss ein Vogel fliegen, bis der Lärm der Stadt unter ihm der friedlichen Stille weicht? Wie schnell muss er mit den Flügeln schlagen, bis er das Land unter sich nicht mehr sieht? Wie viele Meilen muss er zurücklegen, bis seine Vergangenheit verschwimmt und von fern die Zukunft vor ihm aufscheint? Dieser Vogel zu sein, das wünschte ich mir an diesem Abend. Dann hätte ich mich vom Wind ergreifen und weit forttragen lassen können von all den Kränkungen und Demütigungen, die wir auf dem Schulball ertragen mussten. Es war ein Abend, an dem Johann wie ein Boxer im Ring niedergeschlagen wurde, und an dem Direktor Dandridge von uns verlangte, auf der Stelle die Schule zu verlassen. Vorher schickte er uns zur Jungentoilette, wo ich Johanns blutige Lippe und seine geschwollenen Augen säubern sollte, während er persönlich Wache stand, um weitere Zwischenfälle zu verhindern. Ein Abend, an dem mir der Direktor auf dem Weg aus der Aula, während Johann unkontrolliert hustend sich schwer auf mich stützte, mitteilte, dass ich am Montagmorgen als Allererstes mein Vertrauensschülerabzeichen abzuliefern hätte.
Ich hörte seine Worte kaum, weil ich längst schon flog und hoch über der Schule kreiste, seine unbarmherzige Stimme wurde schwächer und schwächer, während ich mit Johann in die Sicherheit seines Wagens flüchtete.
Im dunklen lederbezogenen Innenraum des Autos hielten wir einander fest. Der eine Ärmel von Johanns Nadelstreifensakko war vom Ellbogen abwärts zerfetzt, die Hose blutbefleckt.
Mir fielen keine passenden Worte ein, nicht einmal meine Stimme fand ich, um ihm zu sagen, dass alles meine Schuld war. Es war blind und naiv von mir gewesen, ihn als meinen Tanzpartner zu einem Schulball einzuladen, auf dem einer von außerhalb nicht toleriert wurde, weder von Lehrern noch von Schülern – erst recht nicht, wenn er Afrikaander und Kapitän einer rivalisierenden Schulmannschaft war. Ich allein hatte ihm das eingebrockt.
Johann lehnte sich stöhnend auf dem Sitz zurück, sein blondes verklebtes Haar fiel ihm in die Stirn. »Ich glaube, sie mochten mich nicht besonders …«, sagte er und lachte leise. Er streckte die Hand aus und fuhr mit einem Finger sacht durch mein Haar.
Über meine Lippen kam ein halb lachender, halb schluchzender Laut. »Es tut mir so leid … Johann, kannst du mir das je verzeihen?« Ich tastete nach seinen Fingern und hielt sie an meine Lippen. Da nahm er meinen Kopf zwischen die Hände und zog mich zu sich heran. »Den ganzen Abend will ich dich schon küssen …«, flüsterte er, dann strich er über seine geschwollene Lippe, »aber mit dieser …«
»Nichts ist unmöglich …« Ich beugte mich zu ihm und legte meine Lippen ganz behutsam auf seine. Er fasste mich am Hinterkopf und zog mich noch näher.
»Du bist das aller…«, setzte er an, aber unsere Lippen schlossen sich so fest aufeinander, dass er seinen Satz nicht beenden konnte. Wir hielten einander umschlungen, atmeten einander ein, mit jedem Kuss intensiver, mit jeder Berührung leidenschaftlicher, mit jeder Liebkosung glühender.
Dass Johann mich begehrte, entfachte eine Sehnsucht in mir. Eine Einsamkeit. Den Wunsch, mich lebendig zu fühlen, einen Sinn zu sehen in meinem ganzen Bemühen und Handeln. Ein Verlangen nach Wertschätzung alles dessen, was mich ausmachte, das Äußere und das Verborgene.
Gibt es immer diesen einen Kuss, der einen spüren lässt, dass man endlich angekommen ist? Es war nicht mein erster Kuss, aber es war der einzige, der wirklich zählte.
In dieser Nacht flogen Johann und ich höher und höher, bis zu einem Ort, wo uns nichts mehr trennte, wo es keine Grenzen gab zwischen Engländern und Afrikaandern, Jungen und Mädchen. In diesen Augenblicken – vielleicht waren es auch Stunden – waren wir in der Dunkelheit eins.
18
DR. Jacobs war es gewohnt, dass er in den späten Abendstunden von Mutter zu dem einen oder anderen Notfall gerufen wurde. Diesmal aber konnte er seine Überraschung nicht verbergen, als er statt eines dunkelhäutigen Verletzten einen verprügelten achtzehnjährigen Weißen vorfand, obendrein ein Afrikaander. Dr. Jacobs, der ein echter Gentleman war, sprach leise auf Afrikaans mit Johann, während er die geplatzte Lippe und die tiefe Wunde über dem Auge nähte. Unterdessen suchte Mutter in Vaters Schrank nach sauberen Sachen für Johann. Ich hielt seine Hand, als Dr. Jacobs eine brennende Salbe
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