Die Farben der Magie
dem Wasser, flitzten umher oder flogen in weiten Schleifen. Gelegentlich stahl einer von ihnen einen weiteren zum Tod verurteilten Leckerbissen aus dem Randfall. Einige von ihnen saßen im Baum, und ihr Gefieder schimmerte. Rincewind beobachtete sie hingerissen.
Als erster Mensch sah er die Randfischer, kleine Wesen, die vor langer Zeit einen selbst für die Scheibenwelt einzigartigen Lebensstil entwickelt hatten. Schon viele Jahrtausende vor dem Bau des Umzauns fanden die Randfischer eine recht wirkungsvolle Methode, um sich hier am Ende der Welt den Lebensunterhalt zu verdienen.
Rincewinds Anwesenheit schien sie überhaupt nicht zu stören. Eine kurze, aber sehr beunruhigende Vision zeigte ihm, wie er den Rest seines Lebens in diesem Baum verbrachte, sich von rohen Vögeln und den Fischen ernährte, die er fangen konnte, während sie an ihm vorbeifielen.
Der Dornbusch bewegte sich. Rincewind ächzte leise, als er nach unten rutschte, aber es gelang ihm, sich an einem Zweig festzuhalten. Allerdings: Früher oder später würde er einschlafen… Irgend etwas veränderte sich, und der Himmel gewann einen purpurnen Glanz. Eine ganz in Schwarz gekleidete große Gestalt stand in der Luft neben dem Baum, und in der einen Hand hielt sie eine Sense. Das Gesicht verbarg sich in den Schatten eine Kapuze.
ICH BIN GEKOMMEN, UM DICH ZU HOLEN, verkündete der unsichtbare Mund. Die Stimme klang so dumpf wie der Herzschlag eines Wals.
Der Baum knarrte erneut, und einige kleine Steine prallten an Rincewinds Helm ab, als sich eine Wurzel aus dem Felsspalt löste.
Der Tod kam immer selbst, um die Seelen von Zauberern zu ernten.
»Woran soll ich sterben?« fragte Rincewind.
Die große Gestalt zögerte.
WIE BITTE? erwiderte sie.
»Nun, ich habe mir nichts gebrochen, und ich bin auch nicht ertrunken, woraus folgt: Welcher Anlaß schickt mich vom Diesseits ins Jenseits? Man kann nicht einfach vom Tod umgebracht werden – es muß einen Grund geben.« Rincewind spürte verblüfft, daß er sich gar nicht mehr fürchtete. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er keine Angst. Schade, daß diese Erfahrung nur von kurzer Dauer sein würde.
Tod überlegte und schien sich dann zu einer Entscheidung durchzuringen.
DU KÖNNTEST AUS ENTSETZEN STERBEN, sagte die Kapuze. Es hörte sich noch immer nach einer Grabesstimme an, aber ein leichtes Vibrieren verriet Unsicherheit.
»Da muß ich dich enttäuschen«, entgegnete Rincewind selbstgefällig.
EIN GRUND IST NICHT NOTWENDIG, meinte Tod. ICH KANN DICH EINFACH TÖTEN.
»Ausgeschlossen! Das wäre Mord!«
Die schwarze Gestalt seufzte und schob die Kapuze zurück. Rincewind sah nicht etwa den erwarteten grinsenden Totenschädel, sondern das blasse und halb durchsichtige Gesicht eines recht besorgten Dämons.
»Ich verpatze alles, stimmt's?« jammerte das Wesen.
»Du siehst überhaupt nicht wie der Tod aus!« entfuhr es Rincewind. »Wer bist du?«
»Skrofulose.«
»Skrofulose?«
»Tod hatte keine Zeit«, erklärte der Dämon zerknirscht. »In Pseudopolis ist eine große Seuche ausgebrochen. Er muß dort durch die Straßen marschieren, und deshalb schickte er mich.«
»Niemand stirbt an Skrofulose! Ich habe meine Rechte. Immerhin bin ich Zauberer!«
»Schon gut, schon gut«, brummte Skrofulose. »Dies sollte eigentlich meine große Chance sein. Sieh es mal so: Wenn ich von der Sense Gebrauch mache, bist du ebenso tot, als hätte der Tod höchstpersönlich damit zugeschlagen. Wer wüßte schon Bescheid?«
»Ich zum Beispiel!« antwortete Rincewind.
»Was jedoch keine Rolle spielt«, hielt ihm Skrofulose entgegen. »Schließlich wärst du tot.«
»Verschwinde!« zischte der Zauberer.
»Ich kann dich ja verstehen«, sagte der Dämon und hob die Sense. »Aber versuch einmal, die Sache aus meiner Perspektive zu sehen. Dieser Auftrag bedeutet mir sehr viel, und du mußt zugeben, daß dein Leben nicht gerade wundervoll ist. Die Reinkarnation könnte nur eine Verbesserung sein – oh!«
Skrofulose preßte sich die Hand auf den Mund, doch Rincewind richtete bereits einen zitternden Zeigefinger auf ihn.
»Reinkarnation!« wiederholte er aufgeregt. »Es stimmt also, was die Mystiker behaupten!«
»Ich gebe nichts zu«, erwiderte der Dämon. »Es ist mir nur so herausgerutscht. Und jetzt… Bist du bereit, freiwillig zu sterben?«
»Nein«, sagte Rincewind.
»Wie du willst.« Skrofulose holte mit der Sense aus, und sie pfiff ziemlich professionell durch die Luft, aber Rincewind hockte gar nicht mehr im Baum. Er
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